Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

widerstandskräftig genug sein, verhängnißvollen äußeren und inneren Bedin¬
gungen der Lebenslage zu widerstehen. "Ein Bekenner der Nothwendigkeits¬
lehre," sagt Stuart Mill, "wird, da er glaubt, unsere Handlungen gehen
aus unserm Charakter hervor, und unser Charakter sei eine Folge unserer
Organisation, unserer Erziehung und unserer Umstände, in Beziehung auf seine
eigenen Handlungen leicht und mehr oder weniger zum Fatalisten und glaubt,
seine Natur sei von der Art, oder seine Erziehung und seine Umstände hätten
seinen Charakter so geformt, daß ihn nun nichts mehr verhindern könne, auf
eine besondere Weise zu fühlen und zu handeln, oder daß ihn wenigstens seine
eigenen Bemühungen nicht daran verhindern Können. Mit den Worten der
Sekte, welche diese bedeutungsvolle Lehre in unseren Tagen am beharrlichsten
gepredigt und am verkehrtesten aufgefaßt hat, wird sein Charakter für ihn und
durch ihn gebildet; es steht nicht in seiner Macht, ihn zu ändern." Man
glaube nicht, daß diese Anschauung wenig verbreitet sei; wir haben sie einmal
auf einer Reise an einem Tage von zwei sehr verschiedenen Kapazitäten höchst
originell vertheidigen hören. Ein geistreicher und aufgeklärter Gelehrter wollte
uns beweisen, daß die Gesellschaft den Lastern und Verbrechen gegenüber von
keiner moralischen Schuld sprechen könne; sie habe sich nur dagegen zu wehren;
die Verbrecher handelten "nach der Vollmacht ihrer Natur". Eine einfache
Frau aus den niederen Ständen aber entschuldigte ein weibliches Vergehen
damit, daß sie sagte: "Das Feuer sitzt drinnen; die Natur will's haben." Hören
wir, was Stuart Mill auf solche Irrthümer entgegnet. "Bis zu einem ge¬
wissen Grade," sagt er, "hat der Mensch die Macht, seinen Charakter zu ändern.
Wenn er auch in letzter Instanz für ihn gebildet ist, so ist dies doch damit
nicht unverträglich, daß er zum Theil durch ihn, als durch eines der unmittel¬
baren Agentien gebildet werde. Sein Charakter wird durch seine Umstände
gebildet (unter diesen seine besondere Organisation inbegriffen), aber sein eigener
Wunsch, ihn in einer besonderen Weise zu bilden, ist einer dieser Umstände
und keineswegs einer von denen, die am wenigsten Einfluß haben. Wir können
zwar nicht direkt anders sein wollen, als wir sind; aber diejenigen, von denen
angenommen wird, sie hätten unseren Charakter gebildet, wollten auch nicht
direkt, daß wir das sein sollten, was wir sind. Ihr Wille hat nur über ihre
eigenen Handlungen eine direkte Gewalt. Sie machten uns zu dem, wozu sie
uns machen wollten; und wenn unsere Gewohnheiten nicht zu sehr eingewurzelt
sind, so können auch wir, wenn wir die erforderlichen Mittel wollen, uns anders
machen. Wenn jene uns unter dem Einfluß gewisser Umstände bringen konnten,
so können wir uns unter dem Einfluß anderer Umstände bringen. Wir sind
genau so gut im Stande, unsern eigenen Charakter für uns zu machen, wenn
wir wollen, wie andere ihn für uns machen können."


widerstandskräftig genug sein, verhängnißvollen äußeren und inneren Bedin¬
gungen der Lebenslage zu widerstehen. „Ein Bekenner der Nothwendigkeits¬
lehre," sagt Stuart Mill, „wird, da er glaubt, unsere Handlungen gehen
aus unserm Charakter hervor, und unser Charakter sei eine Folge unserer
Organisation, unserer Erziehung und unserer Umstände, in Beziehung auf seine
eigenen Handlungen leicht und mehr oder weniger zum Fatalisten und glaubt,
seine Natur sei von der Art, oder seine Erziehung und seine Umstände hätten
seinen Charakter so geformt, daß ihn nun nichts mehr verhindern könne, auf
eine besondere Weise zu fühlen und zu handeln, oder daß ihn wenigstens seine
eigenen Bemühungen nicht daran verhindern Können. Mit den Worten der
Sekte, welche diese bedeutungsvolle Lehre in unseren Tagen am beharrlichsten
gepredigt und am verkehrtesten aufgefaßt hat, wird sein Charakter für ihn und
durch ihn gebildet; es steht nicht in seiner Macht, ihn zu ändern." Man
glaube nicht, daß diese Anschauung wenig verbreitet sei; wir haben sie einmal
auf einer Reise an einem Tage von zwei sehr verschiedenen Kapazitäten höchst
originell vertheidigen hören. Ein geistreicher und aufgeklärter Gelehrter wollte
uns beweisen, daß die Gesellschaft den Lastern und Verbrechen gegenüber von
keiner moralischen Schuld sprechen könne; sie habe sich nur dagegen zu wehren;
die Verbrecher handelten „nach der Vollmacht ihrer Natur". Eine einfache
Frau aus den niederen Ständen aber entschuldigte ein weibliches Vergehen
damit, daß sie sagte: „Das Feuer sitzt drinnen; die Natur will's haben." Hören
wir, was Stuart Mill auf solche Irrthümer entgegnet. „Bis zu einem ge¬
wissen Grade," sagt er, „hat der Mensch die Macht, seinen Charakter zu ändern.
Wenn er auch in letzter Instanz für ihn gebildet ist, so ist dies doch damit
nicht unverträglich, daß er zum Theil durch ihn, als durch eines der unmittel¬
baren Agentien gebildet werde. Sein Charakter wird durch seine Umstände
gebildet (unter diesen seine besondere Organisation inbegriffen), aber sein eigener
Wunsch, ihn in einer besonderen Weise zu bilden, ist einer dieser Umstände
und keineswegs einer von denen, die am wenigsten Einfluß haben. Wir können
zwar nicht direkt anders sein wollen, als wir sind; aber diejenigen, von denen
angenommen wird, sie hätten unseren Charakter gebildet, wollten auch nicht
direkt, daß wir das sein sollten, was wir sind. Ihr Wille hat nur über ihre
eigenen Handlungen eine direkte Gewalt. Sie machten uns zu dem, wozu sie
uns machen wollten; und wenn unsere Gewohnheiten nicht zu sehr eingewurzelt
sind, so können auch wir, wenn wir die erforderlichen Mittel wollen, uns anders
machen. Wenn jene uns unter dem Einfluß gewisser Umstände bringen konnten,
so können wir uns unter dem Einfluß anderer Umstände bringen. Wir sind
genau so gut im Stande, unsern eigenen Charakter für uns zu machen, wenn
wir wollen, wie andere ihn für uns machen können."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0234" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142189"/>
          <p xml:id="ID_650" prev="#ID_649"> widerstandskräftig genug sein, verhängnißvollen äußeren und inneren Bedin¬<lb/>
gungen der Lebenslage zu widerstehen. &#x201E;Ein Bekenner der Nothwendigkeits¬<lb/>
lehre," sagt Stuart Mill, &#x201E;wird, da er glaubt, unsere Handlungen gehen<lb/>
aus unserm Charakter hervor, und unser Charakter sei eine Folge unserer<lb/>
Organisation, unserer Erziehung und unserer Umstände, in Beziehung auf seine<lb/>
eigenen Handlungen leicht und mehr oder weniger zum Fatalisten und glaubt,<lb/>
seine Natur sei von der Art, oder seine Erziehung und seine Umstände hätten<lb/>
seinen Charakter so geformt, daß ihn nun nichts mehr verhindern könne, auf<lb/>
eine besondere Weise zu fühlen und zu handeln, oder daß ihn wenigstens seine<lb/>
eigenen Bemühungen nicht daran verhindern Können. Mit den Worten der<lb/>
Sekte, welche diese bedeutungsvolle Lehre in unseren Tagen am beharrlichsten<lb/>
gepredigt und am verkehrtesten aufgefaßt hat, wird sein Charakter für ihn und<lb/>
durch ihn gebildet; es steht nicht in seiner Macht, ihn zu ändern." Man<lb/>
glaube nicht, daß diese Anschauung wenig verbreitet sei; wir haben sie einmal<lb/>
auf einer Reise an einem Tage von zwei sehr verschiedenen Kapazitäten höchst<lb/>
originell vertheidigen hören. Ein geistreicher und aufgeklärter Gelehrter wollte<lb/>
uns beweisen, daß die Gesellschaft den Lastern und Verbrechen gegenüber von<lb/>
keiner moralischen Schuld sprechen könne; sie habe sich nur dagegen zu wehren;<lb/>
die Verbrecher handelten &#x201E;nach der Vollmacht ihrer Natur". Eine einfache<lb/>
Frau aus den niederen Ständen aber entschuldigte ein weibliches Vergehen<lb/>
damit, daß sie sagte: &#x201E;Das Feuer sitzt drinnen; die Natur will's haben." Hören<lb/>
wir, was Stuart Mill auf solche Irrthümer entgegnet. &#x201E;Bis zu einem ge¬<lb/>
wissen Grade," sagt er, &#x201E;hat der Mensch die Macht, seinen Charakter zu ändern.<lb/>
Wenn er auch in letzter Instanz für ihn gebildet ist, so ist dies doch damit<lb/>
nicht unverträglich, daß er zum Theil durch ihn, als durch eines der unmittel¬<lb/>
baren Agentien gebildet werde. Sein Charakter wird durch seine Umstände<lb/>
gebildet (unter diesen seine besondere Organisation inbegriffen), aber sein eigener<lb/>
Wunsch, ihn in einer besonderen Weise zu bilden, ist einer dieser Umstände<lb/>
und keineswegs einer von denen, die am wenigsten Einfluß haben. Wir können<lb/>
zwar nicht direkt anders sein wollen, als wir sind; aber diejenigen, von denen<lb/>
angenommen wird, sie hätten unseren Charakter gebildet, wollten auch nicht<lb/>
direkt, daß wir das sein sollten, was wir sind. Ihr Wille hat nur über ihre<lb/>
eigenen Handlungen eine direkte Gewalt. Sie machten uns zu dem, wozu sie<lb/>
uns machen wollten; und wenn unsere Gewohnheiten nicht zu sehr eingewurzelt<lb/>
sind, so können auch wir, wenn wir die erforderlichen Mittel wollen, uns anders<lb/>
machen. Wenn jene uns unter dem Einfluß gewisser Umstände bringen konnten,<lb/>
so können wir uns unter dem Einfluß anderer Umstände bringen. Wir sind<lb/>
genau so gut im Stande, unsern eigenen Charakter für uns zu machen, wenn<lb/>
wir wollen, wie andere ihn für uns machen können."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0234] widerstandskräftig genug sein, verhängnißvollen äußeren und inneren Bedin¬ gungen der Lebenslage zu widerstehen. „Ein Bekenner der Nothwendigkeits¬ lehre," sagt Stuart Mill, „wird, da er glaubt, unsere Handlungen gehen aus unserm Charakter hervor, und unser Charakter sei eine Folge unserer Organisation, unserer Erziehung und unserer Umstände, in Beziehung auf seine eigenen Handlungen leicht und mehr oder weniger zum Fatalisten und glaubt, seine Natur sei von der Art, oder seine Erziehung und seine Umstände hätten seinen Charakter so geformt, daß ihn nun nichts mehr verhindern könne, auf eine besondere Weise zu fühlen und zu handeln, oder daß ihn wenigstens seine eigenen Bemühungen nicht daran verhindern Können. Mit den Worten der Sekte, welche diese bedeutungsvolle Lehre in unseren Tagen am beharrlichsten gepredigt und am verkehrtesten aufgefaßt hat, wird sein Charakter für ihn und durch ihn gebildet; es steht nicht in seiner Macht, ihn zu ändern." Man glaube nicht, daß diese Anschauung wenig verbreitet sei; wir haben sie einmal auf einer Reise an einem Tage von zwei sehr verschiedenen Kapazitäten höchst originell vertheidigen hören. Ein geistreicher und aufgeklärter Gelehrter wollte uns beweisen, daß die Gesellschaft den Lastern und Verbrechen gegenüber von keiner moralischen Schuld sprechen könne; sie habe sich nur dagegen zu wehren; die Verbrecher handelten „nach der Vollmacht ihrer Natur". Eine einfache Frau aus den niederen Ständen aber entschuldigte ein weibliches Vergehen damit, daß sie sagte: „Das Feuer sitzt drinnen; die Natur will's haben." Hören wir, was Stuart Mill auf solche Irrthümer entgegnet. „Bis zu einem ge¬ wissen Grade," sagt er, „hat der Mensch die Macht, seinen Charakter zu ändern. Wenn er auch in letzter Instanz für ihn gebildet ist, so ist dies doch damit nicht unverträglich, daß er zum Theil durch ihn, als durch eines der unmittel¬ baren Agentien gebildet werde. Sein Charakter wird durch seine Umstände gebildet (unter diesen seine besondere Organisation inbegriffen), aber sein eigener Wunsch, ihn in einer besonderen Weise zu bilden, ist einer dieser Umstände und keineswegs einer von denen, die am wenigsten Einfluß haben. Wir können zwar nicht direkt anders sein wollen, als wir sind; aber diejenigen, von denen angenommen wird, sie hätten unseren Charakter gebildet, wollten auch nicht direkt, daß wir das sein sollten, was wir sind. Ihr Wille hat nur über ihre eigenen Handlungen eine direkte Gewalt. Sie machten uns zu dem, wozu sie uns machen wollten; und wenn unsere Gewohnheiten nicht zu sehr eingewurzelt sind, so können auch wir, wenn wir die erforderlichen Mittel wollen, uns anders machen. Wenn jene uns unter dem Einfluß gewisser Umstände bringen konnten, so können wir uns unter dem Einfluß anderer Umstände bringen. Wir sind genau so gut im Stande, unsern eigenen Charakter für uns zu machen, wenn wir wollen, wie andere ihn für uns machen können."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/234
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/234>, abgerufen am 20.10.2024.