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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Und mit verhaltenem Groll wenige Monate vorher geschaut hatte. Und NUN
sah man seit dem 10. Dezember die elenden Reste dieses Heeres zurückkehren,
vereinzelt, unbewaffnet, halb erfroren, den Keim des Todes in sich tragend.
Und hinter ihnen her brausten die Kosaken über die Grenze; bald, noch ehe
das Jahr zu Ende ging, folgten die Truppen Wittgenstein's. Sie hielten
treffliche Mannszucht, denn sie kamen als Freunde, als Befreier; so verkün¬
deten es ihre Aufrufe, so bekannte es laut jeder Offizier und jeder Soldat,
und wieviele Deutsche, treffliche Namen, waren doch unter ihnen! Und end¬
lich, am Neujahrstage, flog die Kunde von Tauroggen durch das Land.
Unendlich war die Erregung, sie wuchs täglich, stündlich. Kein Mensch wollte
mehr den Franzosen dienen; nur die Barmherzigkeit wahrlich des gutartigen
Volkes rettete die Reste der "großen Armee" vor elendem Tode, und doch kam
es schon zu gewaltsamen Auftritten: in Königsberg wurde ein französischer
Gensdarm, der einen preußischen Rekruten thätlich beleidigt, von der erbitterten
Menge auf der Stelle erschlagen, im Angesichte der französischen Schloßwache,
vor den Augen König Murat's. "Jetzt oder nie!" so klang überall die Losung.

Ader wo waren die Führer für dies in seinem Innersten erregte und zu
jedem Opfer bereite Volk?

Von Berlin konnte man damals noch nichts erwarten. Und Aork -- er
war zunächst nicht der Mann dazu, eine Volkserhebung zu leiten. Ihn quälten
pessimistische Zweifel, denn seine Rechnung, die Russen würden die Reste des
Macdonald'schen Korps -- etwa noch 6000 Mann -- vor Königsberg' ab¬
schneiden, vernichten, so seine Kapitulation militärisch rechtfertigen helfen, damit
zugleich den Franzosen die Weichsellinie entreißen, hatte ihn betrogen: Macdo¬
nald war glücklich in Danzig angelangt. Und nun kamen am 10. Januar die
Berliner Zeitungen in Königsberg an mit der Nachricht, die Konvention sei
verworfen, er selbst seines Kommandos entsetzt! Da stiegen schwarze Bilder
vor ihm auf: er sah sich entehrt, verurtheilt, erschossen. Er wollte den Befehl
über fein Korps an Kleist übertragen, aber dieser nahm ihn nicht und erklärte,
Niemand werde sich finden, der ihn nähme. Da raffte sich Aork auf. Noch
wußte er offiziell von nichts, und die Ereignisse trieben vorwärts; schon am
6. Januar hatte Königsberg, das am vorigen Tage die Franzosen verlassen,
den Russen Wittgenstein jubelnd begrüßt; seit dem 8. war York selbst in
Königsberg, und der eiserne Soldat wurde weich, als die Studenten der Uni¬
versität ihn begeistert umringten. Er beschloß, die Befehle des Königs zu
ignoriren, den Krieg auf eigene Hand zu beginnen. Aber zum Volksführer
geschaffen war der schroffe Militär, der stolze Edelmann, der obendrein jetzt
ganz isolirt stand unter diesen reservirten Ostpreußen, mit nichten, und der
Laudhofmeister und Regierungspräsident Auerswald, der gewissenhafte, aber


Grenzboten II. 1L7S. LS

Und mit verhaltenem Groll wenige Monate vorher geschaut hatte. Und NUN
sah man seit dem 10. Dezember die elenden Reste dieses Heeres zurückkehren,
vereinzelt, unbewaffnet, halb erfroren, den Keim des Todes in sich tragend.
Und hinter ihnen her brausten die Kosaken über die Grenze; bald, noch ehe
das Jahr zu Ende ging, folgten die Truppen Wittgenstein's. Sie hielten
treffliche Mannszucht, denn sie kamen als Freunde, als Befreier; so verkün¬
deten es ihre Aufrufe, so bekannte es laut jeder Offizier und jeder Soldat,
und wieviele Deutsche, treffliche Namen, waren doch unter ihnen! Und end¬
lich, am Neujahrstage, flog die Kunde von Tauroggen durch das Land.
Unendlich war die Erregung, sie wuchs täglich, stündlich. Kein Mensch wollte
mehr den Franzosen dienen; nur die Barmherzigkeit wahrlich des gutartigen
Volkes rettete die Reste der „großen Armee" vor elendem Tode, und doch kam
es schon zu gewaltsamen Auftritten: in Königsberg wurde ein französischer
Gensdarm, der einen preußischen Rekruten thätlich beleidigt, von der erbitterten
Menge auf der Stelle erschlagen, im Angesichte der französischen Schloßwache,
vor den Augen König Murat's. „Jetzt oder nie!" so klang überall die Losung.

Ader wo waren die Führer für dies in seinem Innersten erregte und zu
jedem Opfer bereite Volk?

Von Berlin konnte man damals noch nichts erwarten. Und Aork — er
war zunächst nicht der Mann dazu, eine Volkserhebung zu leiten. Ihn quälten
pessimistische Zweifel, denn seine Rechnung, die Russen würden die Reste des
Macdonald'schen Korps — etwa noch 6000 Mann — vor Königsberg' ab¬
schneiden, vernichten, so seine Kapitulation militärisch rechtfertigen helfen, damit
zugleich den Franzosen die Weichsellinie entreißen, hatte ihn betrogen: Macdo¬
nald war glücklich in Danzig angelangt. Und nun kamen am 10. Januar die
Berliner Zeitungen in Königsberg an mit der Nachricht, die Konvention sei
verworfen, er selbst seines Kommandos entsetzt! Da stiegen schwarze Bilder
vor ihm auf: er sah sich entehrt, verurtheilt, erschossen. Er wollte den Befehl
über fein Korps an Kleist übertragen, aber dieser nahm ihn nicht und erklärte,
Niemand werde sich finden, der ihn nähme. Da raffte sich Aork auf. Noch
wußte er offiziell von nichts, und die Ereignisse trieben vorwärts; schon am
6. Januar hatte Königsberg, das am vorigen Tage die Franzosen verlassen,
den Russen Wittgenstein jubelnd begrüßt; seit dem 8. war York selbst in
Königsberg, und der eiserne Soldat wurde weich, als die Studenten der Uni¬
versität ihn begeistert umringten. Er beschloß, die Befehle des Königs zu
ignoriren, den Krieg auf eigene Hand zu beginnen. Aber zum Volksführer
geschaffen war der schroffe Militär, der stolze Edelmann, der obendrein jetzt
ganz isolirt stand unter diesen reservirten Ostpreußen, mit nichten, und der
Laudhofmeister und Regierungspräsident Auerswald, der gewissenhafte, aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/225>, abgerufen am 20.10.2024.