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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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organisation, disharmonische Ausgestaltung des menschlichen Lebens. Durch
die einzelne böse Handlung, mag ihr Gegenstand noch so geringfügig sein, wird
das zur Unterordnung unter das Allgemeine bestimmte selbstische Prinzip frei,
autonom, und dadurch ist die innere Einheit des geistigen Lebens zerstört, es
klafft in den Widerspruch zweier sich entgegengesetzter Potenzen auseinander.
In Folge dessen tritt eine Entfremdung zwischen der in sich gespaltenen Per¬
sönlichkeit auf der einen und dem Sittengesetz und Gott, der sich durch dasselbe
offenbart, auf der andern Seite ein; eine Entfremdung, die eine Verdunkelung
der sittlichen und religiösen Erkenntniß und eine Schwächung der religiösen
und sittlichen Kraft nach sich zieht. Mit der Entfesselung des selbstischen
Prinzips zugleich wird aber auch das sinnliche Element frei, in welchem dieses
seine organische Basis hat, und damit vollzieht sich der Prozeß der Zersetzung
und Auflösung.

Vergegenwärtigen wir uns endlich die Folgen, welche die Verwirklichung
des Bösen im Individuum für das Ganze der Menschheit hervorbringen muß.
Es handelt sich hier um eine Frage, deren Beantwortung verschieden ausfallen
wird, je nachdem ein einheitlicher oder ein vielfacher Ursprung des Menschen¬
geschlechts und je nachdem die geschichtliche Verwirklichung des Bösen im An¬
fange oder im Fortgange desselben vorausgesetzt wird. Die Frage läßt sich
also nicht rein metaphysisch beantworten, sondern nur von einer bestimmten
geschichtlichen Gesammtanschauung aus. Vom rein metaphysischen Standpunkte
aus läßt sich nur ein zweifaches behaupten: einmal daß die Verwirklichung
des Bösen im Individuum den sittlichen Zustand der Mitlebenden gefährden
muß, insofern die Versuchung zum Bösen kräftiger an sie herantritt; sodann,
daß die aus dem Bösen hervorgehende Desorganisation des inneren Lebens,
welche die Keime für eine nothwendig weitergehende Entwickelung des Bösen
in sich schließt, durch Zeugung und Geburt sich fortpflanzt.

Es liegt außerhalb der Absicht dieses Aufsatzes, die Berechtigung einer
bestimmten geschichtlichen Gesammtanschauung zu erweisen, er wollte sich auf
das metaphysische Gebiet beschränken; daß es aber in der Konsequenz der hier
entwickelten Auffassung liegt, die geschichtliche Verwirklichung des Bösen in den
Anfängen des Menschengeschlechts zu suchen und dies auf einen einheitlichen
Ursprung zurückzuführen, wird leicht erkennbar sein.


H. Jacovy.


organisation, disharmonische Ausgestaltung des menschlichen Lebens. Durch
die einzelne böse Handlung, mag ihr Gegenstand noch so geringfügig sein, wird
das zur Unterordnung unter das Allgemeine bestimmte selbstische Prinzip frei,
autonom, und dadurch ist die innere Einheit des geistigen Lebens zerstört, es
klafft in den Widerspruch zweier sich entgegengesetzter Potenzen auseinander.
In Folge dessen tritt eine Entfremdung zwischen der in sich gespaltenen Per¬
sönlichkeit auf der einen und dem Sittengesetz und Gott, der sich durch dasselbe
offenbart, auf der andern Seite ein; eine Entfremdung, die eine Verdunkelung
der sittlichen und religiösen Erkenntniß und eine Schwächung der religiösen
und sittlichen Kraft nach sich zieht. Mit der Entfesselung des selbstischen
Prinzips zugleich wird aber auch das sinnliche Element frei, in welchem dieses
seine organische Basis hat, und damit vollzieht sich der Prozeß der Zersetzung
und Auflösung.

Vergegenwärtigen wir uns endlich die Folgen, welche die Verwirklichung
des Bösen im Individuum für das Ganze der Menschheit hervorbringen muß.
Es handelt sich hier um eine Frage, deren Beantwortung verschieden ausfallen
wird, je nachdem ein einheitlicher oder ein vielfacher Ursprung des Menschen¬
geschlechts und je nachdem die geschichtliche Verwirklichung des Bösen im An¬
fange oder im Fortgange desselben vorausgesetzt wird. Die Frage läßt sich
also nicht rein metaphysisch beantworten, sondern nur von einer bestimmten
geschichtlichen Gesammtanschauung aus. Vom rein metaphysischen Standpunkte
aus läßt sich nur ein zweifaches behaupten: einmal daß die Verwirklichung
des Bösen im Individuum den sittlichen Zustand der Mitlebenden gefährden
muß, insofern die Versuchung zum Bösen kräftiger an sie herantritt; sodann,
daß die aus dem Bösen hervorgehende Desorganisation des inneren Lebens,
welche die Keime für eine nothwendig weitergehende Entwickelung des Bösen
in sich schließt, durch Zeugung und Geburt sich fortpflanzt.

Es liegt außerhalb der Absicht dieses Aufsatzes, die Berechtigung einer
bestimmten geschichtlichen Gesammtanschauung zu erweisen, er wollte sich auf
das metaphysische Gebiet beschränken; daß es aber in der Konsequenz der hier
entwickelten Auffassung liegt, die geschichtliche Verwirklichung des Bösen in den
Anfängen des Menschengeschlechts zu suchen und dies auf einen einheitlichen
Ursprung zurückzuführen, wird leicht erkennbar sein.


H. Jacovy.


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[0188] organisation, disharmonische Ausgestaltung des menschlichen Lebens. Durch die einzelne böse Handlung, mag ihr Gegenstand noch so geringfügig sein, wird das zur Unterordnung unter das Allgemeine bestimmte selbstische Prinzip frei, autonom, und dadurch ist die innere Einheit des geistigen Lebens zerstört, es klafft in den Widerspruch zweier sich entgegengesetzter Potenzen auseinander. In Folge dessen tritt eine Entfremdung zwischen der in sich gespaltenen Per¬ sönlichkeit auf der einen und dem Sittengesetz und Gott, der sich durch dasselbe offenbart, auf der andern Seite ein; eine Entfremdung, die eine Verdunkelung der sittlichen und religiösen Erkenntniß und eine Schwächung der religiösen und sittlichen Kraft nach sich zieht. Mit der Entfesselung des selbstischen Prinzips zugleich wird aber auch das sinnliche Element frei, in welchem dieses seine organische Basis hat, und damit vollzieht sich der Prozeß der Zersetzung und Auflösung. Vergegenwärtigen wir uns endlich die Folgen, welche die Verwirklichung des Bösen im Individuum für das Ganze der Menschheit hervorbringen muß. Es handelt sich hier um eine Frage, deren Beantwortung verschieden ausfallen wird, je nachdem ein einheitlicher oder ein vielfacher Ursprung des Menschen¬ geschlechts und je nachdem die geschichtliche Verwirklichung des Bösen im An¬ fange oder im Fortgange desselben vorausgesetzt wird. Die Frage läßt sich also nicht rein metaphysisch beantworten, sondern nur von einer bestimmten geschichtlichen Gesammtanschauung aus. Vom rein metaphysischen Standpunkte aus läßt sich nur ein zweifaches behaupten: einmal daß die Verwirklichung des Bösen im Individuum den sittlichen Zustand der Mitlebenden gefährden muß, insofern die Versuchung zum Bösen kräftiger an sie herantritt; sodann, daß die aus dem Bösen hervorgehende Desorganisation des inneren Lebens, welche die Keime für eine nothwendig weitergehende Entwickelung des Bösen in sich schließt, durch Zeugung und Geburt sich fortpflanzt. Es liegt außerhalb der Absicht dieses Aufsatzes, die Berechtigung einer bestimmten geschichtlichen Gesammtanschauung zu erweisen, er wollte sich auf das metaphysische Gebiet beschränken; daß es aber in der Konsequenz der hier entwickelten Auffassung liegt, die geschichtliche Verwirklichung des Bösen in den Anfängen des Menschengeschlechts zu suchen und dies auf einen einheitlichen Ursprung zurückzuführen, wird leicht erkennbar sein. H. Jacovy.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/188>, abgerufen am 27.09.2024.