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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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ebenfalls als vermeidlich bezeichnen dürfen. Kym geht schnell über diese Frage,
die er verneinend beantwortet, hinweg. Und doch ist sie keineswegs so leicht
zu entscheiden. Schon in dem theoretischen Irrthum sieht Schleiermacher eine
fehlerhafte Gesinnung thätig. "Aller Irrthum, sagt er, ist Uebereilung."*) Und
so verhält es sich auch. Der theoretische Irrthum entsteht aus der Trägheit
der Selbstsucht, die eine Untersuchung zu früh abschließt, sei es, um überhaupt
der Anstrengung zu entgehen, welche ihre weitere Fortsetzung mit sich führen
würde, sei es in dem Vorgefühl, dadurch im Besitz einer lieb gewordenen Vor¬
stellung gefährdet zu werden. Beides aber erscheint als ein Uebel, das geflohen
werden muß. Es kommt hierzu, daß tief im menschlichen Gemüthsleben das
Bedürfniß nach einer Gesammtanschanung der Dinge begründet ist, das
schleunige Befriedigung fordert. Wie soll diese aber gewonnen werden? Auf
dem Wege wissenschaftlicher Erkenntniß? Er ist lang, unsicher das Ziel, und
das Gemüth will nicht warten. Nun stehen ihm allerdings zwei Quellen
offen, aus denen es schöpfen kann: einmal die Religion, die ja das gerade als
Eigenthümliches besitzt, auf ein Ganzes gerichtet zu sein, eine in sich zusammen¬
stimmende Erkenntniß zu gewähren; sodann die Poesie, in welcher die Phantasie
die Lücken des Erkennens mit frei geschaffenen Gebilden ausfüllt. Und wir
können uns denken, daß bei Kräftigkeit der Religion und reger Thätigkeit der
Phantasie die Gefahr des Irrthums geringer werde. Wenn nur nicht gerade
hier die Trägheit neue Stützpunkte fände, indem sie bald im Namen der
Religion der Wissenschaft hemmend in den Weg tritt oder, um die begriffliche
Arbeit sich zu erleichtern, sich selbst täuschend, diese durch die Thätigkeit der
Phantasie unterbricht und deren Erzeugnisse in die Erträge des Gedankens
mischt, bald nach einem beschränkten Maßstab, von Gesichtspunkten aus, die
auf einem kleineren Arbeitsfelde sich bewährt haben, die wissenschaftliche Er¬
kenntniß der gestimmten Welt zu gewinnen wähnt. Auch hier zeigt es sich: der
Irrthum erwächst aus der Trägheit, der Selbstsucht. Ist diese vermeidlich,
dann auch der theoretische Irrthum. Wie steht es aber nun mit dem
praktischen Irrthum?

Wir halten ihn allerdings für unvermeidlich. Denn das normale Handeln
ist von zwei Faktoren abhängig, einem idealen, der auf das Gute gerichteten
Gesinnung, und einem empirischen, der Erkenntniß der Beschaffenheit, welche
der äußeren Welt eigen ist. Ist beides in fehlerloser Gestalt vorhanden, so
kann das Handeln normal, d. h. objektiv zweckmäßig sich vollziehen. Daß
keine Nothwendigkeit einer abnormen Entwickelung für die Gesinnung vorliegt,
haben wir gesehen, aber verbürgt diese auch eine fehlerlose Erkenntniß der



') Entwurf eines Systems der Sittenlehre. Berlin 1336. S. 224, 229.
Grenzboten II. 1379. 24

ebenfalls als vermeidlich bezeichnen dürfen. Kym geht schnell über diese Frage,
die er verneinend beantwortet, hinweg. Und doch ist sie keineswegs so leicht
zu entscheiden. Schon in dem theoretischen Irrthum sieht Schleiermacher eine
fehlerhafte Gesinnung thätig. „Aller Irrthum, sagt er, ist Uebereilung."*) Und
so verhält es sich auch. Der theoretische Irrthum entsteht aus der Trägheit
der Selbstsucht, die eine Untersuchung zu früh abschließt, sei es, um überhaupt
der Anstrengung zu entgehen, welche ihre weitere Fortsetzung mit sich führen
würde, sei es in dem Vorgefühl, dadurch im Besitz einer lieb gewordenen Vor¬
stellung gefährdet zu werden. Beides aber erscheint als ein Uebel, das geflohen
werden muß. Es kommt hierzu, daß tief im menschlichen Gemüthsleben das
Bedürfniß nach einer Gesammtanschanung der Dinge begründet ist, das
schleunige Befriedigung fordert. Wie soll diese aber gewonnen werden? Auf
dem Wege wissenschaftlicher Erkenntniß? Er ist lang, unsicher das Ziel, und
das Gemüth will nicht warten. Nun stehen ihm allerdings zwei Quellen
offen, aus denen es schöpfen kann: einmal die Religion, die ja das gerade als
Eigenthümliches besitzt, auf ein Ganzes gerichtet zu sein, eine in sich zusammen¬
stimmende Erkenntniß zu gewähren; sodann die Poesie, in welcher die Phantasie
die Lücken des Erkennens mit frei geschaffenen Gebilden ausfüllt. Und wir
können uns denken, daß bei Kräftigkeit der Religion und reger Thätigkeit der
Phantasie die Gefahr des Irrthums geringer werde. Wenn nur nicht gerade
hier die Trägheit neue Stützpunkte fände, indem sie bald im Namen der
Religion der Wissenschaft hemmend in den Weg tritt oder, um die begriffliche
Arbeit sich zu erleichtern, sich selbst täuschend, diese durch die Thätigkeit der
Phantasie unterbricht und deren Erzeugnisse in die Erträge des Gedankens
mischt, bald nach einem beschränkten Maßstab, von Gesichtspunkten aus, die
auf einem kleineren Arbeitsfelde sich bewährt haben, die wissenschaftliche Er¬
kenntniß der gestimmten Welt zu gewinnen wähnt. Auch hier zeigt es sich: der
Irrthum erwächst aus der Trägheit, der Selbstsucht. Ist diese vermeidlich,
dann auch der theoretische Irrthum. Wie steht es aber nun mit dem
praktischen Irrthum?

Wir halten ihn allerdings für unvermeidlich. Denn das normale Handeln
ist von zwei Faktoren abhängig, einem idealen, der auf das Gute gerichteten
Gesinnung, und einem empirischen, der Erkenntniß der Beschaffenheit, welche
der äußeren Welt eigen ist. Ist beides in fehlerloser Gestalt vorhanden, so
kann das Handeln normal, d. h. objektiv zweckmäßig sich vollziehen. Daß
keine Nothwendigkeit einer abnormen Entwickelung für die Gesinnung vorliegt,
haben wir gesehen, aber verbürgt diese auch eine fehlerlose Erkenntniß der



') Entwurf eines Systems der Sittenlehre. Berlin 1336. S. 224, 229.
Grenzboten II. 1379. 24
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/185>, abgerufen am 27.09.2024.