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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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der Reflexion, in dem Mangel an rechter Erkenntniß, im Irrthum die Quellen
des Bösen sucht. Denn wenn es auch richtig ist, worauf wir vorher hinge¬
wiesen haben, daß das Gute an die Erkenntniß der sittlichen Idee als an die
Bedingung seiner Verwirklichung geknüpft ist, so schließt doch die Erkenntniß
des Guten noch keineswegs das Vollbringen desselben ein; und ein Irrthum
oder ein irrthümliches Handeln, das mit keiner falschen Willensrichtung sich
verbände -- wir lassen vorläufig dahingestellt, ob ein solcher Fall möglich
ist --, fiele auch nicht unter den Begriff des Bösen.

Wir müssen aber noch einmal auf die Theorie von der Sinnlichkeit als
der Ursache des Bösen zurückkommen. Ist es auch richtig, daß die Sinnlichkeit
als diese Ursache nicht angesehen werden kann, wenn wir sie in ihrer Beziehung
Zum sittlichen Faktor betrachten, insofern derselbe als gleichzeitig und von
gleicher Stärke im Subjekt vorausgesetzt wird, so gewinnt diese Theorie doch
eine andere Beleuchtung, wenn wir die successive Entwickelung des Menschen
in das Auge fassen. Vergegenwärtigen wir uns, daß diese zuerst unter der
Herrschaft der Sinnlichkeit, dann erst unter der Herrschaft des Geistes sich
vollzieht, vergessen wir ferner nicht, daß die sinnlichen Triebe als solche, isolirt
von dem geistigen Einfluß, selbstischer Natur sind, so liegt es nahe anzunehmen,
daß, wenn das geistige Element die ihm gebührende Stellung in Anspruch
nehmen will, es schon einen kräftig gewordenen Egoismus im Menschen vor¬
findet, der ihm Widerstand leistet,, und daß aus diesem Gegensatze des durch
die Herrschaft der Sinnlichkeit hervorgebrachten Egoismus und des nun erst später
sich bezeugenden geistigen Faktors mit Nothwendigkeit das Böse sich bildet.
Aber die Voraussetzung ist unzutreffend, auf welche dieser Einwand, den wir
bei hervorragenden Theologen und Philosophen der neueren Zeit wie Hegel
und Schleiermcicher finden, begründet wird. Es ist thatsächlich nicht so, daß
die Abhängigkeit des Menschen von der Sinnlichkeit, wie sie längere Zeit hin¬
durch seine Entwickelung bestimmt, als eine so unbedingte zu betrachten wäre,
daß dieselbe nothwendiger Weise die Wirksamkeit aller geistigen und sittlichen
Einflüsse ausschlösse. Mau kann nur von einem Ueberwiegen des sinnlichen
Faktors in diesem Stadium reden.

Anders stände es, wenn die Kenntniß der sittlichen Idee Nur als eine
erworbene, durch die Erfahrung gewonnene zu begreifen wäre, wie der Sen¬
sualismus behauptet; wenn also in Folge lang anhaltender Unkenntniß der
sittlichen Forderungen dem egoistischen Begehren einer ungezügelten Sinnlichkeit
weiter Raum gegeben wäre. Aber diese Voraussetzung bestreiten wir, ebenso
freilich den unmöglichen Gedanken des Spiritualismus, daß die Kenntniß der
sittlichen Idee vor jeglichem Handeln dem Bewußtsein als angeborenes Erbe
gegenwärtig sei.


der Reflexion, in dem Mangel an rechter Erkenntniß, im Irrthum die Quellen
des Bösen sucht. Denn wenn es auch richtig ist, worauf wir vorher hinge¬
wiesen haben, daß das Gute an die Erkenntniß der sittlichen Idee als an die
Bedingung seiner Verwirklichung geknüpft ist, so schließt doch die Erkenntniß
des Guten noch keineswegs das Vollbringen desselben ein; und ein Irrthum
oder ein irrthümliches Handeln, das mit keiner falschen Willensrichtung sich
verbände — wir lassen vorläufig dahingestellt, ob ein solcher Fall möglich
ist —, fiele auch nicht unter den Begriff des Bösen.

Wir müssen aber noch einmal auf die Theorie von der Sinnlichkeit als
der Ursache des Bösen zurückkommen. Ist es auch richtig, daß die Sinnlichkeit
als diese Ursache nicht angesehen werden kann, wenn wir sie in ihrer Beziehung
Zum sittlichen Faktor betrachten, insofern derselbe als gleichzeitig und von
gleicher Stärke im Subjekt vorausgesetzt wird, so gewinnt diese Theorie doch
eine andere Beleuchtung, wenn wir die successive Entwickelung des Menschen
in das Auge fassen. Vergegenwärtigen wir uns, daß diese zuerst unter der
Herrschaft der Sinnlichkeit, dann erst unter der Herrschaft des Geistes sich
vollzieht, vergessen wir ferner nicht, daß die sinnlichen Triebe als solche, isolirt
von dem geistigen Einfluß, selbstischer Natur sind, so liegt es nahe anzunehmen,
daß, wenn das geistige Element die ihm gebührende Stellung in Anspruch
nehmen will, es schon einen kräftig gewordenen Egoismus im Menschen vor¬
findet, der ihm Widerstand leistet,, und daß aus diesem Gegensatze des durch
die Herrschaft der Sinnlichkeit hervorgebrachten Egoismus und des nun erst später
sich bezeugenden geistigen Faktors mit Nothwendigkeit das Böse sich bildet.
Aber die Voraussetzung ist unzutreffend, auf welche dieser Einwand, den wir
bei hervorragenden Theologen und Philosophen der neueren Zeit wie Hegel
und Schleiermcicher finden, begründet wird. Es ist thatsächlich nicht so, daß
die Abhängigkeit des Menschen von der Sinnlichkeit, wie sie längere Zeit hin¬
durch seine Entwickelung bestimmt, als eine so unbedingte zu betrachten wäre,
daß dieselbe nothwendiger Weise die Wirksamkeit aller geistigen und sittlichen
Einflüsse ausschlösse. Mau kann nur von einem Ueberwiegen des sinnlichen
Faktors in diesem Stadium reden.

Anders stände es, wenn die Kenntniß der sittlichen Idee Nur als eine
erworbene, durch die Erfahrung gewonnene zu begreifen wäre, wie der Sen¬
sualismus behauptet; wenn also in Folge lang anhaltender Unkenntniß der
sittlichen Forderungen dem egoistischen Begehren einer ungezügelten Sinnlichkeit
weiter Raum gegeben wäre. Aber diese Voraussetzung bestreiten wir, ebenso
freilich den unmöglichen Gedanken des Spiritualismus, daß die Kenntniß der
sittlichen Idee vor jeglichem Handeln dem Bewußtsein als angeborenes Erbe
gegenwärtig sei.


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[0183] der Reflexion, in dem Mangel an rechter Erkenntniß, im Irrthum die Quellen des Bösen sucht. Denn wenn es auch richtig ist, worauf wir vorher hinge¬ wiesen haben, daß das Gute an die Erkenntniß der sittlichen Idee als an die Bedingung seiner Verwirklichung geknüpft ist, so schließt doch die Erkenntniß des Guten noch keineswegs das Vollbringen desselben ein; und ein Irrthum oder ein irrthümliches Handeln, das mit keiner falschen Willensrichtung sich verbände — wir lassen vorläufig dahingestellt, ob ein solcher Fall möglich ist —, fiele auch nicht unter den Begriff des Bösen. Wir müssen aber noch einmal auf die Theorie von der Sinnlichkeit als der Ursache des Bösen zurückkommen. Ist es auch richtig, daß die Sinnlichkeit als diese Ursache nicht angesehen werden kann, wenn wir sie in ihrer Beziehung Zum sittlichen Faktor betrachten, insofern derselbe als gleichzeitig und von gleicher Stärke im Subjekt vorausgesetzt wird, so gewinnt diese Theorie doch eine andere Beleuchtung, wenn wir die successive Entwickelung des Menschen in das Auge fassen. Vergegenwärtigen wir uns, daß diese zuerst unter der Herrschaft der Sinnlichkeit, dann erst unter der Herrschaft des Geistes sich vollzieht, vergessen wir ferner nicht, daß die sinnlichen Triebe als solche, isolirt von dem geistigen Einfluß, selbstischer Natur sind, so liegt es nahe anzunehmen, daß, wenn das geistige Element die ihm gebührende Stellung in Anspruch nehmen will, es schon einen kräftig gewordenen Egoismus im Menschen vor¬ findet, der ihm Widerstand leistet,, und daß aus diesem Gegensatze des durch die Herrschaft der Sinnlichkeit hervorgebrachten Egoismus und des nun erst später sich bezeugenden geistigen Faktors mit Nothwendigkeit das Böse sich bildet. Aber die Voraussetzung ist unzutreffend, auf welche dieser Einwand, den wir bei hervorragenden Theologen und Philosophen der neueren Zeit wie Hegel und Schleiermcicher finden, begründet wird. Es ist thatsächlich nicht so, daß die Abhängigkeit des Menschen von der Sinnlichkeit, wie sie längere Zeit hin¬ durch seine Entwickelung bestimmt, als eine so unbedingte zu betrachten wäre, daß dieselbe nothwendiger Weise die Wirksamkeit aller geistigen und sittlichen Einflüsse ausschlösse. Mau kann nur von einem Ueberwiegen des sinnlichen Faktors in diesem Stadium reden. Anders stände es, wenn die Kenntniß der sittlichen Idee Nur als eine erworbene, durch die Erfahrung gewonnene zu begreifen wäre, wie der Sen¬ sualismus behauptet; wenn also in Folge lang anhaltender Unkenntniß der sittlichen Forderungen dem egoistischen Begehren einer ungezügelten Sinnlichkeit weiter Raum gegeben wäre. Aber diese Voraussetzung bestreiten wir, ebenso freilich den unmöglichen Gedanken des Spiritualismus, daß die Kenntniß der sittlichen Idee vor jeglichem Handeln dem Bewußtsein als angeborenes Erbe gegenwärtig sei.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/183>, abgerufen am 27.09.2024.