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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Heimstätte gefunden, wo sie ausschließlich und anerkanntermaßen herrschte, sie
ist auf die alte Welt beschränkt geblieben, und selbst hier beginnt sie an ihrer
Peripherie Einbuße zu erleiden. Man halte den Schmerz über diese Erschei¬
nung nicht für einen Ausfluß nationaler Eitelkeit; es ist ein positiv materieller
Nachtheil mit ihr verbunden. Da wir nirgends außerhalb Europa's unser
Idiom herrschend antreffen, so sind wir genöthigt, sobald wir unsere Grenzen
überschritten haben, uns fremder Sprachen zu bedienen; das Erlernen fremder
Sprachen, das jetzt schon einen großen Theil der unserer Jugendbildung ge¬
widmeten Zeit aufzehrt, wird immer größere Dimensionen annehmen und zwar
wiederum auf Kosten unserer Muttersprache und anderer wichtiger Unterrichts¬
zweige, und die Hoffnung, daß unsere Jugendbildung endlich einmal eine
nationale werde, wird immer mehr schwinden.

Und doch, bei all' diesen Nachtheilen, hat es fast den Anschein, als hätte
die Auswanderung wenigstens den einen Vortheil für Deutschland gehabt, daß
sie ihm die überschüssige Bevölkerung entführte und es so vor einer Über¬
völkerung schützte, die möglicherweise vielleicht noch viel schlimmere Erscheinungen
hervorgerufen haben würde -- ein Gesichtspunkt, der besonders in jüngster
Zeit hervortrat, wo die Auswanderung nicht nur beträchtlich nachließ, sondern
auch eine nicht unbedeutende Rückwanderung erfolgte. Die letzten Zählungen
haben ergeben, daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches rapid wächst und
ihre Zunahme sich in Progressionen bewegt, welche die Besorgniß wach rufen,
daß Deutschland in nicht allzuferner Zeit nicht mehr im Stande sein möchte,
seine Einwohner genügend zu beschäftigen und zu ernähren, und daß mit dem
steigenden Pauperismus auch die soziale Frage in ein immer bedenklicheres
Stadium treten möchte. In den Jahren 1367 --1875 war die Bevölkerungs¬
ziffer von 40,093279 auf 42,727 360 gestiegen, so daß die jährliche Zunahme
im Durchschnitt 326 760 oder 0,83 Prozent betrug, wobei jedoch zu berück¬
sichtigen bleibt, daß die Nachwirkungen der beiden Kriege von 1864 und 1866
sowie die Ereignisse der Jahre 1870--1871 einer schnellen Vermehrung hinder¬
lich waren. In den letzten beiden Jahren, 1875--1877, machte der Ueberschuß
der Geborenen über die Gestorbenen je 650000 Köpfe aus, sodaß nach Abrechnung
einer Auswanderung von jährlich etwa 50000 Seelen die jährliche Zunahme
600000 betragen würde. Denkt man sich diese Vermehrung in entsprechenden
Proportionen fortgesetzt, so wäre -- schlecht gerechnet -- in 50 Jahren die
Verdoppelung der Bevölkerung eingetreten, im Jahre 1933 Hütte Deutschland
eine Seelenzahl von 86 Millionen, im Jahre 1900 bereits eine Zahl von
mindestens 60 Millionen aufzuweisen. Bietet sich keine Möglichkeit, durch
Hebung und Wiederbelebung aller vorhandenen wirthschaftlichen Faktoren und
durch Auffindung neuer Erwerbszweige für eine so große Bevölkerung Beschäf-


Heimstätte gefunden, wo sie ausschließlich und anerkanntermaßen herrschte, sie
ist auf die alte Welt beschränkt geblieben, und selbst hier beginnt sie an ihrer
Peripherie Einbuße zu erleiden. Man halte den Schmerz über diese Erschei¬
nung nicht für einen Ausfluß nationaler Eitelkeit; es ist ein positiv materieller
Nachtheil mit ihr verbunden. Da wir nirgends außerhalb Europa's unser
Idiom herrschend antreffen, so sind wir genöthigt, sobald wir unsere Grenzen
überschritten haben, uns fremder Sprachen zu bedienen; das Erlernen fremder
Sprachen, das jetzt schon einen großen Theil der unserer Jugendbildung ge¬
widmeten Zeit aufzehrt, wird immer größere Dimensionen annehmen und zwar
wiederum auf Kosten unserer Muttersprache und anderer wichtiger Unterrichts¬
zweige, und die Hoffnung, daß unsere Jugendbildung endlich einmal eine
nationale werde, wird immer mehr schwinden.

Und doch, bei all' diesen Nachtheilen, hat es fast den Anschein, als hätte
die Auswanderung wenigstens den einen Vortheil für Deutschland gehabt, daß
sie ihm die überschüssige Bevölkerung entführte und es so vor einer Über¬
völkerung schützte, die möglicherweise vielleicht noch viel schlimmere Erscheinungen
hervorgerufen haben würde — ein Gesichtspunkt, der besonders in jüngster
Zeit hervortrat, wo die Auswanderung nicht nur beträchtlich nachließ, sondern
auch eine nicht unbedeutende Rückwanderung erfolgte. Die letzten Zählungen
haben ergeben, daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches rapid wächst und
ihre Zunahme sich in Progressionen bewegt, welche die Besorgniß wach rufen,
daß Deutschland in nicht allzuferner Zeit nicht mehr im Stande sein möchte,
seine Einwohner genügend zu beschäftigen und zu ernähren, und daß mit dem
steigenden Pauperismus auch die soziale Frage in ein immer bedenklicheres
Stadium treten möchte. In den Jahren 1367 —1875 war die Bevölkerungs¬
ziffer von 40,093279 auf 42,727 360 gestiegen, so daß die jährliche Zunahme
im Durchschnitt 326 760 oder 0,83 Prozent betrug, wobei jedoch zu berück¬
sichtigen bleibt, daß die Nachwirkungen der beiden Kriege von 1864 und 1866
sowie die Ereignisse der Jahre 1870—1871 einer schnellen Vermehrung hinder¬
lich waren. In den letzten beiden Jahren, 1875—1877, machte der Ueberschuß
der Geborenen über die Gestorbenen je 650000 Köpfe aus, sodaß nach Abrechnung
einer Auswanderung von jährlich etwa 50000 Seelen die jährliche Zunahme
600000 betragen würde. Denkt man sich diese Vermehrung in entsprechenden
Proportionen fortgesetzt, so wäre — schlecht gerechnet — in 50 Jahren die
Verdoppelung der Bevölkerung eingetreten, im Jahre 1933 Hütte Deutschland
eine Seelenzahl von 86 Millionen, im Jahre 1900 bereits eine Zahl von
mindestens 60 Millionen aufzuweisen. Bietet sich keine Möglichkeit, durch
Hebung und Wiederbelebung aller vorhandenen wirthschaftlichen Faktoren und
durch Auffindung neuer Erwerbszweige für eine so große Bevölkerung Beschäf-


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[0173] Heimstätte gefunden, wo sie ausschließlich und anerkanntermaßen herrschte, sie ist auf die alte Welt beschränkt geblieben, und selbst hier beginnt sie an ihrer Peripherie Einbuße zu erleiden. Man halte den Schmerz über diese Erschei¬ nung nicht für einen Ausfluß nationaler Eitelkeit; es ist ein positiv materieller Nachtheil mit ihr verbunden. Da wir nirgends außerhalb Europa's unser Idiom herrschend antreffen, so sind wir genöthigt, sobald wir unsere Grenzen überschritten haben, uns fremder Sprachen zu bedienen; das Erlernen fremder Sprachen, das jetzt schon einen großen Theil der unserer Jugendbildung ge¬ widmeten Zeit aufzehrt, wird immer größere Dimensionen annehmen und zwar wiederum auf Kosten unserer Muttersprache und anderer wichtiger Unterrichts¬ zweige, und die Hoffnung, daß unsere Jugendbildung endlich einmal eine nationale werde, wird immer mehr schwinden. Und doch, bei all' diesen Nachtheilen, hat es fast den Anschein, als hätte die Auswanderung wenigstens den einen Vortheil für Deutschland gehabt, daß sie ihm die überschüssige Bevölkerung entführte und es so vor einer Über¬ völkerung schützte, die möglicherweise vielleicht noch viel schlimmere Erscheinungen hervorgerufen haben würde — ein Gesichtspunkt, der besonders in jüngster Zeit hervortrat, wo die Auswanderung nicht nur beträchtlich nachließ, sondern auch eine nicht unbedeutende Rückwanderung erfolgte. Die letzten Zählungen haben ergeben, daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches rapid wächst und ihre Zunahme sich in Progressionen bewegt, welche die Besorgniß wach rufen, daß Deutschland in nicht allzuferner Zeit nicht mehr im Stande sein möchte, seine Einwohner genügend zu beschäftigen und zu ernähren, und daß mit dem steigenden Pauperismus auch die soziale Frage in ein immer bedenklicheres Stadium treten möchte. In den Jahren 1367 —1875 war die Bevölkerungs¬ ziffer von 40,093279 auf 42,727 360 gestiegen, so daß die jährliche Zunahme im Durchschnitt 326 760 oder 0,83 Prozent betrug, wobei jedoch zu berück¬ sichtigen bleibt, daß die Nachwirkungen der beiden Kriege von 1864 und 1866 sowie die Ereignisse der Jahre 1870—1871 einer schnellen Vermehrung hinder¬ lich waren. In den letzten beiden Jahren, 1875—1877, machte der Ueberschuß der Geborenen über die Gestorbenen je 650000 Köpfe aus, sodaß nach Abrechnung einer Auswanderung von jährlich etwa 50000 Seelen die jährliche Zunahme 600000 betragen würde. Denkt man sich diese Vermehrung in entsprechenden Proportionen fortgesetzt, so wäre — schlecht gerechnet — in 50 Jahren die Verdoppelung der Bevölkerung eingetreten, im Jahre 1933 Hütte Deutschland eine Seelenzahl von 86 Millionen, im Jahre 1900 bereits eine Zahl von mindestens 60 Millionen aufzuweisen. Bietet sich keine Möglichkeit, durch Hebung und Wiederbelebung aller vorhandenen wirthschaftlichen Faktoren und durch Auffindung neuer Erwerbszweige für eine so große Bevölkerung Beschäf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/173>, abgerufen am 27.09.2024.