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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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größerer Wucht herein und nahm es um so ärger mit, weil es eben als ein
in dieser Beziehung noch junges und nicht genügend gefestigtes Wesen sich viel
empfindlicher zeigte als andere Staaten. Die Verluste, die wir bei dieser Krisis
erlitten, sind so bedeutend, daß man sie nach Abrechnung der französischen
Kriegskosten-Entschädigung auf 2700 Millionen Mark anschlägt.

Nun geht aber durch die Auswanderung, theils in andere Staaten, theils
in fremde Kolonieen, Deutschland nicht nur ein bedeutendes Quantum vor¬
züglicher Arbeitskräfte verloren -- denn diejenigen, welche ihr Schicksal den
Wogen anzuvertrauen wagen, um sich in einem ihnen völlig fremden Lande
mit Muth, Kraft und Ausdauer eine neue und bessere Existenz zu gründen,
gehören gewiß nicht zu den schlechtesten Gliedern des Volkes --, sondern es
folgt ihnen auch ein beträchtliches Kapital über den Ozean nach. Die Anzahl
der deutschen Auswanderer in den letzten 50 Jahren schätzt man auf etwa
4 Millionen, den Kapitalverlust dagegen -- allerdings mit Einrechnung der
verlorenen Arbeitskraft-- schlägt F. H. Moldenhauer") auf 15 Milliarden Mark
an. Dies sind Summen, wie sie selbst ein so reiches Land wie England kaum
einbüßen könnte, geschweige denn das viel ärmere Deutschland. Und zu diesen
jährlichen Opfern tritt der bedauerliche Umstand hinzu, daß die Auswanderer
auch in Sprache und Sitte ihrer angestammten Heimat meist entfremdet werden
und sich bald mit den anderen Nationen amalgamiren. Die griechischen Kolo¬
nisten breiteten mit ihren Ansiedelungen auch ihre Sprache aus und setzten dadurch
zu einer Zeit, wo es nicht nur nicht Sitte, sondern auch fast unmöglich war,
fremde Sprachen zu erlernen, ihre Stammverwandten in den Stand, an den
von ihnen angebauten Küstenstrecken mit Leichtigkeit Handelsbeziehungen arm--
knüpfen und von da aus in das Innere vorzudringen. Die römischen Kolo¬
nisten schufen die romanischen Sprachen, die sich in wenig Jahrhunderten so
gefestigt hatten, daß selbst die Stürme der Völkerwanderung wirkungslos an
ihnen vorüberbrausten; die auf Raubbau ausgehenden Spanier und Portu¬
giesen verpflanzten ihre heimatlichen Idiome dergestalt in die neue Welt, daß
sie ihren eigenen Aufenthalt daselbst lange überdauern werden; die englische
Sprache endlich hat sich mit Ausdehnung des englischen Kolonialbesitzes ein
so großes Gebiet erobert, daß sie als die verbreitetste Sprache bereits von
94 Millionen Menschen gesprochen wird, und die Stellung als Weltsprache ihr
nahezu gesichert erscheint. Nur die deutsche Sprache, die doch eine so reiche
und vielseitige Literatur besitzt, die Sprache derjenigen Nation, die sich ohne
Ueberhebung rühmen darf, die gebildetste, die gelehrteste zu sein, die Sprache
der modernen Grammatiker und Philologen, sie hat in der neuen Welt keine



Erörterungen über Kolonial- und Auswandcrungswescn. Frankfurt a. M>

größerer Wucht herein und nahm es um so ärger mit, weil es eben als ein
in dieser Beziehung noch junges und nicht genügend gefestigtes Wesen sich viel
empfindlicher zeigte als andere Staaten. Die Verluste, die wir bei dieser Krisis
erlitten, sind so bedeutend, daß man sie nach Abrechnung der französischen
Kriegskosten-Entschädigung auf 2700 Millionen Mark anschlägt.

Nun geht aber durch die Auswanderung, theils in andere Staaten, theils
in fremde Kolonieen, Deutschland nicht nur ein bedeutendes Quantum vor¬
züglicher Arbeitskräfte verloren — denn diejenigen, welche ihr Schicksal den
Wogen anzuvertrauen wagen, um sich in einem ihnen völlig fremden Lande
mit Muth, Kraft und Ausdauer eine neue und bessere Existenz zu gründen,
gehören gewiß nicht zu den schlechtesten Gliedern des Volkes —, sondern es
folgt ihnen auch ein beträchtliches Kapital über den Ozean nach. Die Anzahl
der deutschen Auswanderer in den letzten 50 Jahren schätzt man auf etwa
4 Millionen, den Kapitalverlust dagegen — allerdings mit Einrechnung der
verlorenen Arbeitskraft— schlägt F. H. Moldenhauer") auf 15 Milliarden Mark
an. Dies sind Summen, wie sie selbst ein so reiches Land wie England kaum
einbüßen könnte, geschweige denn das viel ärmere Deutschland. Und zu diesen
jährlichen Opfern tritt der bedauerliche Umstand hinzu, daß die Auswanderer
auch in Sprache und Sitte ihrer angestammten Heimat meist entfremdet werden
und sich bald mit den anderen Nationen amalgamiren. Die griechischen Kolo¬
nisten breiteten mit ihren Ansiedelungen auch ihre Sprache aus und setzten dadurch
zu einer Zeit, wo es nicht nur nicht Sitte, sondern auch fast unmöglich war,
fremde Sprachen zu erlernen, ihre Stammverwandten in den Stand, an den
von ihnen angebauten Küstenstrecken mit Leichtigkeit Handelsbeziehungen arm--
knüpfen und von da aus in das Innere vorzudringen. Die römischen Kolo¬
nisten schufen die romanischen Sprachen, die sich in wenig Jahrhunderten so
gefestigt hatten, daß selbst die Stürme der Völkerwanderung wirkungslos an
ihnen vorüberbrausten; die auf Raubbau ausgehenden Spanier und Portu¬
giesen verpflanzten ihre heimatlichen Idiome dergestalt in die neue Welt, daß
sie ihren eigenen Aufenthalt daselbst lange überdauern werden; die englische
Sprache endlich hat sich mit Ausdehnung des englischen Kolonialbesitzes ein
so großes Gebiet erobert, daß sie als die verbreitetste Sprache bereits von
94 Millionen Menschen gesprochen wird, und die Stellung als Weltsprache ihr
nahezu gesichert erscheint. Nur die deutsche Sprache, die doch eine so reiche
und vielseitige Literatur besitzt, die Sprache derjenigen Nation, die sich ohne
Ueberhebung rühmen darf, die gebildetste, die gelehrteste zu sein, die Sprache
der modernen Grammatiker und Philologen, sie hat in der neuen Welt keine



Erörterungen über Kolonial- und Auswandcrungswescn. Frankfurt a. M>
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/172>, abgerufen am 27.09.2024.