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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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kurzem sich eine zweite Auflage des Schriftchens nothwendig gemacht hat. Die
hohe Wichtigkeit der Frage, die für uns möglicherweise Lebensfrage ist, recht¬
fertigt es denn wohl auch, wenn wir auch unsererseits -- wiewohl die meisten
Zeitschriften sich bereits über die Sache ausgelassen haben, und sie den Reiz
der Neuheit nicht mehr sür sich hat -- auf dieselbe zurückkommen. Einerseits sind
wir der Ansicht, daß eine Angelegenheit von so tiefgreifender Bedeutung, wie
diese es ist, nicht in wenigen Wochen veralten kann, andererseits glauben wir,
daß ein längeres Festhalten an ihr um so nothwendiger sein dürfte, je ferner
sie bisher nicht nur dem großen Publikum, sondern selbst den leitenden poli¬
tischen Kreisen gestanden hat.

Im vorigen Jahrhundert hat schon Justus Möser und in den vierziger
Jahren unseres Jahrhunderts Friedrich List darauf hingewiesen, welche wichtigen
Dienste Kolonieen ihrem Mutterlande leisten können, und seitdem ist die An¬
regung, daß Deutschland darauf ausgehen solle, sich Kolonialbesitz zu erwerben,
noch wiederholt aufgetaucht, immer aber kurzer Hand mit der Bemerkung ab¬
gewiesen werden, daß Deutschland als kontinentaler Staat sich auf derartige
Unternehmungen nicht einlassen könne, daß man erst die innere Organisation
des vorhandenen Länderbesitzes vollziehen müsse, ehe man an auswärtigen Er¬
werb denken dürfe, daß die Lage Deutschland's im Zentrum und der Mangel
an ausgedehnter Küste es auf eine zentralisirte Stellung hinwiese, und der
Mangel an guten natürlichen Grenzen es zu einer Militär-, nicht zu einer
Kolonialmacht bestimme.

Nun ist es ja richtig, daß die Bewohner von Küstengebieten, durch das Meer
frühzeitig zur Seefahrt erzogen, zu allen Zeiten als Hauptkolonisatoren aufge¬
treten sind, und die transmarinen Kolonieen zeigen sich als die häusigsten und
wichtigsten; aber man faßt den Begriff der Kolonie entschieden zu eng, wenn
man darunter nur überseeische Unternehmungen versteht. Kolonieen schickten anch
die Sabiner aus, wenn sie ein ?ör sa.vrri.iri gelobten, wenn eine jugendkräftige
Schaar die karge, bergige Heimat verließ, um sich in fruchtbaren Niederungen
eine neue Heimat zu suchen. Wenn so von rauhen, aber lebensfrischen Berg¬
völkern Landschaften für die Dauer in Besitz genommen und die Ureinwohner
derselben verdrängt oder vergewaltigt wurden, was war es anders als Kolo¬
nisation? In diesem Sinne aber hat die deutsche Nationalität schon frühzeitig
kolonisatorische Aufgaben ergriffen und vielfach glücklich gelöst. Ein Vergleich
der Sprach- und Nationalitätenkarte von 800 u. Chr. mit der von heute kann
lehren, ein wie großes Gebiet das deutsche Volk seitdem sich neu errungen und
größtentheils behauptet hat. Aber uicht nur in der alten, auch in der neuen
Welt, wo es leider fremden Völkern Handlangerdienste leistete, hat es seine
Befähigung für kolonisatorische Thätigkeit unzweifelhaft an den Tag gelegt.


kurzem sich eine zweite Auflage des Schriftchens nothwendig gemacht hat. Die
hohe Wichtigkeit der Frage, die für uns möglicherweise Lebensfrage ist, recht¬
fertigt es denn wohl auch, wenn wir auch unsererseits — wiewohl die meisten
Zeitschriften sich bereits über die Sache ausgelassen haben, und sie den Reiz
der Neuheit nicht mehr sür sich hat — auf dieselbe zurückkommen. Einerseits sind
wir der Ansicht, daß eine Angelegenheit von so tiefgreifender Bedeutung, wie
diese es ist, nicht in wenigen Wochen veralten kann, andererseits glauben wir,
daß ein längeres Festhalten an ihr um so nothwendiger sein dürfte, je ferner
sie bisher nicht nur dem großen Publikum, sondern selbst den leitenden poli¬
tischen Kreisen gestanden hat.

Im vorigen Jahrhundert hat schon Justus Möser und in den vierziger
Jahren unseres Jahrhunderts Friedrich List darauf hingewiesen, welche wichtigen
Dienste Kolonieen ihrem Mutterlande leisten können, und seitdem ist die An¬
regung, daß Deutschland darauf ausgehen solle, sich Kolonialbesitz zu erwerben,
noch wiederholt aufgetaucht, immer aber kurzer Hand mit der Bemerkung ab¬
gewiesen werden, daß Deutschland als kontinentaler Staat sich auf derartige
Unternehmungen nicht einlassen könne, daß man erst die innere Organisation
des vorhandenen Länderbesitzes vollziehen müsse, ehe man an auswärtigen Er¬
werb denken dürfe, daß die Lage Deutschland's im Zentrum und der Mangel
an ausgedehnter Küste es auf eine zentralisirte Stellung hinwiese, und der
Mangel an guten natürlichen Grenzen es zu einer Militär-, nicht zu einer
Kolonialmacht bestimme.

Nun ist es ja richtig, daß die Bewohner von Küstengebieten, durch das Meer
frühzeitig zur Seefahrt erzogen, zu allen Zeiten als Hauptkolonisatoren aufge¬
treten sind, und die transmarinen Kolonieen zeigen sich als die häusigsten und
wichtigsten; aber man faßt den Begriff der Kolonie entschieden zu eng, wenn
man darunter nur überseeische Unternehmungen versteht. Kolonieen schickten anch
die Sabiner aus, wenn sie ein ?ör sa.vrri.iri gelobten, wenn eine jugendkräftige
Schaar die karge, bergige Heimat verließ, um sich in fruchtbaren Niederungen
eine neue Heimat zu suchen. Wenn so von rauhen, aber lebensfrischen Berg¬
völkern Landschaften für die Dauer in Besitz genommen und die Ureinwohner
derselben verdrängt oder vergewaltigt wurden, was war es anders als Kolo¬
nisation? In diesem Sinne aber hat die deutsche Nationalität schon frühzeitig
kolonisatorische Aufgaben ergriffen und vielfach glücklich gelöst. Ein Vergleich
der Sprach- und Nationalitätenkarte von 800 u. Chr. mit der von heute kann
lehren, ein wie großes Gebiet das deutsche Volk seitdem sich neu errungen und
größtentheils behauptet hat. Aber uicht nur in der alten, auch in der neuen
Welt, wo es leider fremden Völkern Handlangerdienste leistete, hat es seine
Befähigung für kolonisatorische Thätigkeit unzweifelhaft an den Tag gelegt.


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[0170] kurzem sich eine zweite Auflage des Schriftchens nothwendig gemacht hat. Die hohe Wichtigkeit der Frage, die für uns möglicherweise Lebensfrage ist, recht¬ fertigt es denn wohl auch, wenn wir auch unsererseits — wiewohl die meisten Zeitschriften sich bereits über die Sache ausgelassen haben, und sie den Reiz der Neuheit nicht mehr sür sich hat — auf dieselbe zurückkommen. Einerseits sind wir der Ansicht, daß eine Angelegenheit von so tiefgreifender Bedeutung, wie diese es ist, nicht in wenigen Wochen veralten kann, andererseits glauben wir, daß ein längeres Festhalten an ihr um so nothwendiger sein dürfte, je ferner sie bisher nicht nur dem großen Publikum, sondern selbst den leitenden poli¬ tischen Kreisen gestanden hat. Im vorigen Jahrhundert hat schon Justus Möser und in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts Friedrich List darauf hingewiesen, welche wichtigen Dienste Kolonieen ihrem Mutterlande leisten können, und seitdem ist die An¬ regung, daß Deutschland darauf ausgehen solle, sich Kolonialbesitz zu erwerben, noch wiederholt aufgetaucht, immer aber kurzer Hand mit der Bemerkung ab¬ gewiesen werden, daß Deutschland als kontinentaler Staat sich auf derartige Unternehmungen nicht einlassen könne, daß man erst die innere Organisation des vorhandenen Länderbesitzes vollziehen müsse, ehe man an auswärtigen Er¬ werb denken dürfe, daß die Lage Deutschland's im Zentrum und der Mangel an ausgedehnter Küste es auf eine zentralisirte Stellung hinwiese, und der Mangel an guten natürlichen Grenzen es zu einer Militär-, nicht zu einer Kolonialmacht bestimme. Nun ist es ja richtig, daß die Bewohner von Küstengebieten, durch das Meer frühzeitig zur Seefahrt erzogen, zu allen Zeiten als Hauptkolonisatoren aufge¬ treten sind, und die transmarinen Kolonieen zeigen sich als die häusigsten und wichtigsten; aber man faßt den Begriff der Kolonie entschieden zu eng, wenn man darunter nur überseeische Unternehmungen versteht. Kolonieen schickten anch die Sabiner aus, wenn sie ein ?ör sa.vrri.iri gelobten, wenn eine jugendkräftige Schaar die karge, bergige Heimat verließ, um sich in fruchtbaren Niederungen eine neue Heimat zu suchen. Wenn so von rauhen, aber lebensfrischen Berg¬ völkern Landschaften für die Dauer in Besitz genommen und die Ureinwohner derselben verdrängt oder vergewaltigt wurden, was war es anders als Kolo¬ nisation? In diesem Sinne aber hat die deutsche Nationalität schon frühzeitig kolonisatorische Aufgaben ergriffen und vielfach glücklich gelöst. Ein Vergleich der Sprach- und Nationalitätenkarte von 800 u. Chr. mit der von heute kann lehren, ein wie großes Gebiet das deutsche Volk seitdem sich neu errungen und größtentheils behauptet hat. Aber uicht nur in der alten, auch in der neuen Welt, wo es leider fremden Völkern Handlangerdienste leistete, hat es seine Befähigung für kolonisatorische Thätigkeit unzweifelhaft an den Tag gelegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/170>, abgerufen am 20.10.2024.