Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

land gegebenen Beispiele folgend, das Exportinteresse mehr und mehr über die
Sicherung des einheimischen Marktes stellen. In der That war diese Hoffnung
bis vor wenigen Jahren weit verbreitet. Heute besteht nach der Lage der
fremden Zollgesetzgebung und den Tarifprojekten verschiedener Staaten kein
Zweifel, daß die erste Voraussetzung der seit 1865 maßgebenden deutschen
Tarifpolitik nunmehr hinfällig ist. Von höchster Bedeutung ist aber die jetzt
folgende Ausführung der Motive. Die zweite Voraussetzung nämlich, unter
welcher die Beibehaltung der auf den einheimischen Schutz mehr und mehr
verzichtenden Tarifpolitik gerechtfertigt werden konnte, bestand darin, daß keine
für Deutschland ungünstige Aenderung in den wirthschaftlichen Machtverhült-
nisseu der Nationen gegenüber dem Zustande bei Abschluß der Handelsverträge
in den sechziger Jahren eintrat. Aber diese Voraussetzung ist völlig ge¬
schwunden. Die Entwickelung der Verkehrsanstalten hat die Prvduktionsstätten
und Absatzgebiete ganz anders gelagert, als vor zehn oder zwanzig Jahren.
Der einheimische Absatz der wichtigsten deutschen Produkte, der Land- und
Forstwirthschaft wie der Industrie ist durch eine Massenproduktion des Aus¬
landes und durch die erleichterte Ableitung derselben auf den deutschen Markt
in einer Weise bedroht, wie noch vor kurzer Zeit nicht vorausgesehen werden
konnte. Dazu kommt, daß umgekehrt die fremden Nationen gelernt haben,
durch die Schaffung einer eigenen Industrie mittelst der Zollgesetzgebung die
Einfuhr aus Deutschland immer mehr zu entbehren.

Man sollte denken, diese Sprache wäre hinlänglich beredt. Es handelt
sich bei der jetzigen Zollreform weit mehr noch um eine Präventiv- als um
eine Repressivmaßregel, weit mehr noch um Sicherung vor den Gefahren der
Zukunft als um Beseitigung bereits eingerissener Schäden. Aber auch das ist
nicht zu verkennen, daß der bereits gestiftete, schon zu heilende Schaden groß
genug ist. Unter den Staaten, welche die deutsche Einfuhr bereits gesperrt
haben oder auf dem Wege dazu sind, führen die Motive zuerst die Vereinigten
Staaten an, sodann Rußland, welches seit dem 1. Januar 1877 durch die
Erhebung der Zölle in Gold die deutsche Einfuhr noch höher als bisher be¬
lastet, während Oesterreich-Ungarn und Italien bei dem Ablauf der Handels¬
verträge Anlaß genommen haben, die Waareneinfuhr durch neu festgestellte
allgemeine Tarife beträchtlich zu erschweren, und in Frankreich, welches auch
unter dem System der Handelsverträge den Schutz der nationalen Arbeit fest¬
zuhalten gewußt hatte, weitere Erwägungen über die Anpassung des Zollsystems
an die Bedürfnisse der einheimischen Erwerbsthätigkeit im Gange sind.


.
Grenzboten II. 137S. 21

land gegebenen Beispiele folgend, das Exportinteresse mehr und mehr über die
Sicherung des einheimischen Marktes stellen. In der That war diese Hoffnung
bis vor wenigen Jahren weit verbreitet. Heute besteht nach der Lage der
fremden Zollgesetzgebung und den Tarifprojekten verschiedener Staaten kein
Zweifel, daß die erste Voraussetzung der seit 1865 maßgebenden deutschen
Tarifpolitik nunmehr hinfällig ist. Von höchster Bedeutung ist aber die jetzt
folgende Ausführung der Motive. Die zweite Voraussetzung nämlich, unter
welcher die Beibehaltung der auf den einheimischen Schutz mehr und mehr
verzichtenden Tarifpolitik gerechtfertigt werden konnte, bestand darin, daß keine
für Deutschland ungünstige Aenderung in den wirthschaftlichen Machtverhült-
nisseu der Nationen gegenüber dem Zustande bei Abschluß der Handelsverträge
in den sechziger Jahren eintrat. Aber diese Voraussetzung ist völlig ge¬
schwunden. Die Entwickelung der Verkehrsanstalten hat die Prvduktionsstätten
und Absatzgebiete ganz anders gelagert, als vor zehn oder zwanzig Jahren.
Der einheimische Absatz der wichtigsten deutschen Produkte, der Land- und
Forstwirthschaft wie der Industrie ist durch eine Massenproduktion des Aus¬
landes und durch die erleichterte Ableitung derselben auf den deutschen Markt
in einer Weise bedroht, wie noch vor kurzer Zeit nicht vorausgesehen werden
konnte. Dazu kommt, daß umgekehrt die fremden Nationen gelernt haben,
durch die Schaffung einer eigenen Industrie mittelst der Zollgesetzgebung die
Einfuhr aus Deutschland immer mehr zu entbehren.

Man sollte denken, diese Sprache wäre hinlänglich beredt. Es handelt
sich bei der jetzigen Zollreform weit mehr noch um eine Präventiv- als um
eine Repressivmaßregel, weit mehr noch um Sicherung vor den Gefahren der
Zukunft als um Beseitigung bereits eingerissener Schäden. Aber auch das ist
nicht zu verkennen, daß der bereits gestiftete, schon zu heilende Schaden groß
genug ist. Unter den Staaten, welche die deutsche Einfuhr bereits gesperrt
haben oder auf dem Wege dazu sind, führen die Motive zuerst die Vereinigten
Staaten an, sodann Rußland, welches seit dem 1. Januar 1877 durch die
Erhebung der Zölle in Gold die deutsche Einfuhr noch höher als bisher be¬
lastet, während Oesterreich-Ungarn und Italien bei dem Ablauf der Handels¬
verträge Anlaß genommen haben, die Waareneinfuhr durch neu festgestellte
allgemeine Tarife beträchtlich zu erschweren, und in Frankreich, welches auch
unter dem System der Handelsverträge den Schutz der nationalen Arbeit fest¬
zuhalten gewußt hatte, weitere Erwägungen über die Anpassung des Zollsystems
an die Bedürfnisse der einheimischen Erwerbsthätigkeit im Gange sind.


.
Grenzboten II. 137S. 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0165" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142120"/>
          <p xml:id="ID_471" prev="#ID_470"> land gegebenen Beispiele folgend, das Exportinteresse mehr und mehr über die<lb/>
Sicherung des einheimischen Marktes stellen. In der That war diese Hoffnung<lb/>
bis vor wenigen Jahren weit verbreitet. Heute besteht nach der Lage der<lb/>
fremden Zollgesetzgebung und den Tarifprojekten verschiedener Staaten kein<lb/>
Zweifel, daß die erste Voraussetzung der seit 1865 maßgebenden deutschen<lb/>
Tarifpolitik nunmehr hinfällig ist. Von höchster Bedeutung ist aber die jetzt<lb/>
folgende Ausführung der Motive. Die zweite Voraussetzung nämlich, unter<lb/>
welcher die Beibehaltung der auf den einheimischen Schutz mehr und mehr<lb/>
verzichtenden Tarifpolitik gerechtfertigt werden konnte, bestand darin, daß keine<lb/>
für Deutschland ungünstige Aenderung in den wirthschaftlichen Machtverhült-<lb/>
nisseu der Nationen gegenüber dem Zustande bei Abschluß der Handelsverträge<lb/>
in den sechziger Jahren eintrat. Aber diese Voraussetzung ist völlig ge¬<lb/>
schwunden. Die Entwickelung der Verkehrsanstalten hat die Prvduktionsstätten<lb/>
und Absatzgebiete ganz anders gelagert, als vor zehn oder zwanzig Jahren.<lb/>
Der einheimische Absatz der wichtigsten deutschen Produkte, der Land- und<lb/>
Forstwirthschaft wie der Industrie ist durch eine Massenproduktion des Aus¬<lb/>
landes und durch die erleichterte Ableitung derselben auf den deutschen Markt<lb/>
in einer Weise bedroht, wie noch vor kurzer Zeit nicht vorausgesehen werden<lb/>
konnte. Dazu kommt, daß umgekehrt die fremden Nationen gelernt haben,<lb/>
durch die Schaffung einer eigenen Industrie mittelst der Zollgesetzgebung die<lb/>
Einfuhr aus Deutschland immer mehr zu entbehren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_472" next="#ID_473"> Man sollte denken, diese Sprache wäre hinlänglich beredt. Es handelt<lb/>
sich bei der jetzigen Zollreform weit mehr noch um eine Präventiv- als um<lb/>
eine Repressivmaßregel, weit mehr noch um Sicherung vor den Gefahren der<lb/>
Zukunft als um Beseitigung bereits eingerissener Schäden. Aber auch das ist<lb/>
nicht zu verkennen, daß der bereits gestiftete, schon zu heilende Schaden groß<lb/>
genug ist. Unter den Staaten, welche die deutsche Einfuhr bereits gesperrt<lb/>
haben oder auf dem Wege dazu sind, führen die Motive zuerst die Vereinigten<lb/>
Staaten an, sodann Rußland, welches seit dem 1. Januar 1877 durch die<lb/>
Erhebung der Zölle in Gold die deutsche Einfuhr noch höher als bisher be¬<lb/>
lastet, während Oesterreich-Ungarn und Italien bei dem Ablauf der Handels¬<lb/>
verträge Anlaß genommen haben, die Waareneinfuhr durch neu festgestellte<lb/>
allgemeine Tarife beträchtlich zu erschweren, und in Frankreich, welches auch<lb/>
unter dem System der Handelsverträge den Schutz der nationalen Arbeit fest¬<lb/>
zuhalten gewußt hatte, weitere Erwägungen über die Anpassung des Zollsystems<lb/>
an die Bedürfnisse der einheimischen Erwerbsthätigkeit im Gange sind.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> .<lb/>
Grenzboten II. 137S. 21</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0165] land gegebenen Beispiele folgend, das Exportinteresse mehr und mehr über die Sicherung des einheimischen Marktes stellen. In der That war diese Hoffnung bis vor wenigen Jahren weit verbreitet. Heute besteht nach der Lage der fremden Zollgesetzgebung und den Tarifprojekten verschiedener Staaten kein Zweifel, daß die erste Voraussetzung der seit 1865 maßgebenden deutschen Tarifpolitik nunmehr hinfällig ist. Von höchster Bedeutung ist aber die jetzt folgende Ausführung der Motive. Die zweite Voraussetzung nämlich, unter welcher die Beibehaltung der auf den einheimischen Schutz mehr und mehr verzichtenden Tarifpolitik gerechtfertigt werden konnte, bestand darin, daß keine für Deutschland ungünstige Aenderung in den wirthschaftlichen Machtverhült- nisseu der Nationen gegenüber dem Zustande bei Abschluß der Handelsverträge in den sechziger Jahren eintrat. Aber diese Voraussetzung ist völlig ge¬ schwunden. Die Entwickelung der Verkehrsanstalten hat die Prvduktionsstätten und Absatzgebiete ganz anders gelagert, als vor zehn oder zwanzig Jahren. Der einheimische Absatz der wichtigsten deutschen Produkte, der Land- und Forstwirthschaft wie der Industrie ist durch eine Massenproduktion des Aus¬ landes und durch die erleichterte Ableitung derselben auf den deutschen Markt in einer Weise bedroht, wie noch vor kurzer Zeit nicht vorausgesehen werden konnte. Dazu kommt, daß umgekehrt die fremden Nationen gelernt haben, durch die Schaffung einer eigenen Industrie mittelst der Zollgesetzgebung die Einfuhr aus Deutschland immer mehr zu entbehren. Man sollte denken, diese Sprache wäre hinlänglich beredt. Es handelt sich bei der jetzigen Zollreform weit mehr noch um eine Präventiv- als um eine Repressivmaßregel, weit mehr noch um Sicherung vor den Gefahren der Zukunft als um Beseitigung bereits eingerissener Schäden. Aber auch das ist nicht zu verkennen, daß der bereits gestiftete, schon zu heilende Schaden groß genug ist. Unter den Staaten, welche die deutsche Einfuhr bereits gesperrt haben oder auf dem Wege dazu sind, führen die Motive zuerst die Vereinigten Staaten an, sodann Rußland, welches seit dem 1. Januar 1877 durch die Erhebung der Zölle in Gold die deutsche Einfuhr noch höher als bisher be¬ lastet, während Oesterreich-Ungarn und Italien bei dem Ablauf der Handels¬ verträge Anlaß genommen haben, die Waareneinfuhr durch neu festgestellte allgemeine Tarife beträchtlich zu erschweren, und in Frankreich, welches auch unter dem System der Handelsverträge den Schutz der nationalen Arbeit fest¬ zuhalten gewußt hatte, weitere Erwägungen über die Anpassung des Zollsystems an die Bedürfnisse der einheimischen Erwerbsthätigkeit im Gange sind. . Grenzboten II. 137S. 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/165
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/165>, abgerufen am 27.09.2024.