Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

seiner Frage heim und fordern ihn auf, uns ein Kunstwerk der Gegenwart
zu nennen, aus dem ein Jeder der Zeitgenossen das Ewige herausfinden kann.
Etwa aus Wilbrandt's "Arria und Messalina" oder aus Anzengruber's
Bauernkomödien oder aus Nissel's "Agnes von Meran", die außer den Mit¬
gliedern der Schillerpreiskommission kein Mensch gekannt hat? Oder steckt das
Ewige in den Dramen des gleichfalls Schillerpreis-gekrönten Heinrich Kruse
oder in den phantastischen Tendenzromanen Friedrich Spielhageu's oder in den
nach Form und Inhalt gleich unnatürlichen Erzählungen Auerbach's "Ans der
Höhe", "Waldfried"^ "Landolin von Reutershofen", "Forstmeister" und Kon¬
sorten?

Mit einem zweiten französischen Drama, das im vorigen Jahre während
der Weltausstellung in Paris viele Schaulustige anzog, mit Sardon's "Bürgern
von Pont-Arcy", hat das Residenztheater trotz einer Aufführung, die in vielen
Stücken die Pariser übertraf, weniger Glück gehabt. Das zerfahrene Stück,
halb politische Satire, die bei einem deutschen Publikum natürlich nur ein
sehr oberflächliches Verständniß finden konnte, halb Familiendrama voll ebenso
Peinlicher wie überflüssiger und unmotivirter Konflikte, erregte nur durch die
Mitwirkung des immer originellen und fesselnden Friedrich Haase ein vorüber¬
gehendes Interesse.

Auch im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, welches den Bedarf
seines Operettenrepertoires fast ausschließlich aus Paris, neuerdings auch aus
Wien bezieht, übte der "kleine Herzog" von Lecoq, der im Nenaisscmcetheater
in Paris länger als sechs Monate hindurch vor vollem Hause dominirte, nicht
die erwartete Zugkraft. Das Theater ist augenblicklich so arm an Gesangs¬
kräften, daß selbst das in dieser Hinsicht gewiß nicht verwöhnte Berliner
Publikum der schmucken und sonst sehr beliebten Bühne den Rücken gekehrt hat.
Ein verwerfliches Cliquen- und Protektionswesen sucht dem Publikum s. tout
xrix Sängerinnen aufzuzwingen, die keinen Ton in der Kehle haben, und so
bewegt sich auch dieses in allen übrigen Dingen vortrefflich geleitete Theater
auf derselben abschüssigen Bahn, wie die meisten anderen Berliner Bühnen. Die
Kunst würde freilich durch seinen Fall nicht viel verlieren, denn dieses Operetten¬
theater steht im Grunde genommen nicht viel höher als das Viktoriatheater,
dessen künstlerischer Schwerpunkt bekanntlich im Ballet, in den Dekorationen,
den Maschinerien und dem elektrischen Lichte liegt. Zwischen dem weiblichen
Chorpersonal der französischen Operette und dem Corps de Ballet des Aus¬
stattungsstückes ist kein großer Unterschied, namentlich wenn man Operetten
aufführt, wie Strauß' "Blindekuh", in der viel mehr getanzt als gesungen
wird. Die Beliebtheit des Walzerkönigs vermochte das totale Fiasko, welches
seine Operette erlitt, nicht im geringsten aufzuhalten, und dabei hatte sich das


seiner Frage heim und fordern ihn auf, uns ein Kunstwerk der Gegenwart
zu nennen, aus dem ein Jeder der Zeitgenossen das Ewige herausfinden kann.
Etwa aus Wilbrandt's „Arria und Messalina" oder aus Anzengruber's
Bauernkomödien oder aus Nissel's „Agnes von Meran", die außer den Mit¬
gliedern der Schillerpreiskommission kein Mensch gekannt hat? Oder steckt das
Ewige in den Dramen des gleichfalls Schillerpreis-gekrönten Heinrich Kruse
oder in den phantastischen Tendenzromanen Friedrich Spielhageu's oder in den
nach Form und Inhalt gleich unnatürlichen Erzählungen Auerbach's „Ans der
Höhe", „Waldfried"^ „Landolin von Reutershofen", „Forstmeister" und Kon¬
sorten?

Mit einem zweiten französischen Drama, das im vorigen Jahre während
der Weltausstellung in Paris viele Schaulustige anzog, mit Sardon's „Bürgern
von Pont-Arcy", hat das Residenztheater trotz einer Aufführung, die in vielen
Stücken die Pariser übertraf, weniger Glück gehabt. Das zerfahrene Stück,
halb politische Satire, die bei einem deutschen Publikum natürlich nur ein
sehr oberflächliches Verständniß finden konnte, halb Familiendrama voll ebenso
Peinlicher wie überflüssiger und unmotivirter Konflikte, erregte nur durch die
Mitwirkung des immer originellen und fesselnden Friedrich Haase ein vorüber¬
gehendes Interesse.

Auch im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, welches den Bedarf
seines Operettenrepertoires fast ausschließlich aus Paris, neuerdings auch aus
Wien bezieht, übte der „kleine Herzog" von Lecoq, der im Nenaisscmcetheater
in Paris länger als sechs Monate hindurch vor vollem Hause dominirte, nicht
die erwartete Zugkraft. Das Theater ist augenblicklich so arm an Gesangs¬
kräften, daß selbst das in dieser Hinsicht gewiß nicht verwöhnte Berliner
Publikum der schmucken und sonst sehr beliebten Bühne den Rücken gekehrt hat.
Ein verwerfliches Cliquen- und Protektionswesen sucht dem Publikum s. tout
xrix Sängerinnen aufzuzwingen, die keinen Ton in der Kehle haben, und so
bewegt sich auch dieses in allen übrigen Dingen vortrefflich geleitete Theater
auf derselben abschüssigen Bahn, wie die meisten anderen Berliner Bühnen. Die
Kunst würde freilich durch seinen Fall nicht viel verlieren, denn dieses Operetten¬
theater steht im Grunde genommen nicht viel höher als das Viktoriatheater,
dessen künstlerischer Schwerpunkt bekanntlich im Ballet, in den Dekorationen,
den Maschinerien und dem elektrischen Lichte liegt. Zwischen dem weiblichen
Chorpersonal der französischen Operette und dem Corps de Ballet des Aus¬
stattungsstückes ist kein großer Unterschied, namentlich wenn man Operetten
aufführt, wie Strauß' „Blindekuh", in der viel mehr getanzt als gesungen
wird. Die Beliebtheit des Walzerkönigs vermochte das totale Fiasko, welches
seine Operette erlitt, nicht im geringsten aufzuhalten, und dabei hatte sich das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0159" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142114"/>
          <p xml:id="ID_455" prev="#ID_454"> seiner Frage heim und fordern ihn auf, uns ein Kunstwerk der Gegenwart<lb/>
zu nennen, aus dem ein Jeder der Zeitgenossen das Ewige herausfinden kann.<lb/>
Etwa aus Wilbrandt's &#x201E;Arria und Messalina" oder aus Anzengruber's<lb/>
Bauernkomödien oder aus Nissel's &#x201E;Agnes von Meran", die außer den Mit¬<lb/>
gliedern der Schillerpreiskommission kein Mensch gekannt hat? Oder steckt das<lb/>
Ewige in den Dramen des gleichfalls Schillerpreis-gekrönten Heinrich Kruse<lb/>
oder in den phantastischen Tendenzromanen Friedrich Spielhageu's oder in den<lb/>
nach Form und Inhalt gleich unnatürlichen Erzählungen Auerbach's &#x201E;Ans der<lb/>
Höhe", &#x201E;Waldfried"^ &#x201E;Landolin von Reutershofen", &#x201E;Forstmeister" und Kon¬<lb/>
sorten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_456"> Mit einem zweiten französischen Drama, das im vorigen Jahre während<lb/>
der Weltausstellung in Paris viele Schaulustige anzog, mit Sardon's &#x201E;Bürgern<lb/>
von Pont-Arcy", hat das Residenztheater trotz einer Aufführung, die in vielen<lb/>
Stücken die Pariser übertraf, weniger Glück gehabt. Das zerfahrene Stück,<lb/>
halb politische Satire, die bei einem deutschen Publikum natürlich nur ein<lb/>
sehr oberflächliches Verständniß finden konnte, halb Familiendrama voll ebenso<lb/>
Peinlicher wie überflüssiger und unmotivirter Konflikte, erregte nur durch die<lb/>
Mitwirkung des immer originellen und fesselnden Friedrich Haase ein vorüber¬<lb/>
gehendes Interesse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_457" next="#ID_458"> Auch im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, welches den Bedarf<lb/>
seines Operettenrepertoires fast ausschließlich aus Paris, neuerdings auch aus<lb/>
Wien bezieht, übte der &#x201E;kleine Herzog" von Lecoq, der im Nenaisscmcetheater<lb/>
in Paris länger als sechs Monate hindurch vor vollem Hause dominirte, nicht<lb/>
die erwartete Zugkraft. Das Theater ist augenblicklich so arm an Gesangs¬<lb/>
kräften, daß selbst das in dieser Hinsicht gewiß nicht verwöhnte Berliner<lb/>
Publikum der schmucken und sonst sehr beliebten Bühne den Rücken gekehrt hat.<lb/>
Ein verwerfliches Cliquen- und Protektionswesen sucht dem Publikum s. tout<lb/>
xrix Sängerinnen aufzuzwingen, die keinen Ton in der Kehle haben, und so<lb/>
bewegt sich auch dieses in allen übrigen Dingen vortrefflich geleitete Theater<lb/>
auf derselben abschüssigen Bahn, wie die meisten anderen Berliner Bühnen. Die<lb/>
Kunst würde freilich durch seinen Fall nicht viel verlieren, denn dieses Operetten¬<lb/>
theater steht im Grunde genommen nicht viel höher als das Viktoriatheater,<lb/>
dessen künstlerischer Schwerpunkt bekanntlich im Ballet, in den Dekorationen,<lb/>
den Maschinerien und dem elektrischen Lichte liegt. Zwischen dem weiblichen<lb/>
Chorpersonal der französischen Operette und dem Corps de Ballet des Aus¬<lb/>
stattungsstückes ist kein großer Unterschied, namentlich wenn man Operetten<lb/>
aufführt, wie Strauß' &#x201E;Blindekuh", in der viel mehr getanzt als gesungen<lb/>
wird. Die Beliebtheit des Walzerkönigs vermochte das totale Fiasko, welches<lb/>
seine Operette erlitt, nicht im geringsten aufzuhalten, und dabei hatte sich das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0159] seiner Frage heim und fordern ihn auf, uns ein Kunstwerk der Gegenwart zu nennen, aus dem ein Jeder der Zeitgenossen das Ewige herausfinden kann. Etwa aus Wilbrandt's „Arria und Messalina" oder aus Anzengruber's Bauernkomödien oder aus Nissel's „Agnes von Meran", die außer den Mit¬ gliedern der Schillerpreiskommission kein Mensch gekannt hat? Oder steckt das Ewige in den Dramen des gleichfalls Schillerpreis-gekrönten Heinrich Kruse oder in den phantastischen Tendenzromanen Friedrich Spielhageu's oder in den nach Form und Inhalt gleich unnatürlichen Erzählungen Auerbach's „Ans der Höhe", „Waldfried"^ „Landolin von Reutershofen", „Forstmeister" und Kon¬ sorten? Mit einem zweiten französischen Drama, das im vorigen Jahre während der Weltausstellung in Paris viele Schaulustige anzog, mit Sardon's „Bürgern von Pont-Arcy", hat das Residenztheater trotz einer Aufführung, die in vielen Stücken die Pariser übertraf, weniger Glück gehabt. Das zerfahrene Stück, halb politische Satire, die bei einem deutschen Publikum natürlich nur ein sehr oberflächliches Verständniß finden konnte, halb Familiendrama voll ebenso Peinlicher wie überflüssiger und unmotivirter Konflikte, erregte nur durch die Mitwirkung des immer originellen und fesselnden Friedrich Haase ein vorüber¬ gehendes Interesse. Auch im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, welches den Bedarf seines Operettenrepertoires fast ausschließlich aus Paris, neuerdings auch aus Wien bezieht, übte der „kleine Herzog" von Lecoq, der im Nenaisscmcetheater in Paris länger als sechs Monate hindurch vor vollem Hause dominirte, nicht die erwartete Zugkraft. Das Theater ist augenblicklich so arm an Gesangs¬ kräften, daß selbst das in dieser Hinsicht gewiß nicht verwöhnte Berliner Publikum der schmucken und sonst sehr beliebten Bühne den Rücken gekehrt hat. Ein verwerfliches Cliquen- und Protektionswesen sucht dem Publikum s. tout xrix Sängerinnen aufzuzwingen, die keinen Ton in der Kehle haben, und so bewegt sich auch dieses in allen übrigen Dingen vortrefflich geleitete Theater auf derselben abschüssigen Bahn, wie die meisten anderen Berliner Bühnen. Die Kunst würde freilich durch seinen Fall nicht viel verlieren, denn dieses Operetten¬ theater steht im Grunde genommen nicht viel höher als das Viktoriatheater, dessen künstlerischer Schwerpunkt bekanntlich im Ballet, in den Dekorationen, den Maschinerien und dem elektrischen Lichte liegt. Zwischen dem weiblichen Chorpersonal der französischen Operette und dem Corps de Ballet des Aus¬ stattungsstückes ist kein großer Unterschied, namentlich wenn man Operetten aufführt, wie Strauß' „Blindekuh", in der viel mehr getanzt als gesungen wird. Die Beliebtheit des Walzerkönigs vermochte das totale Fiasko, welches seine Operette erlitt, nicht im geringsten aufzuhalten, und dabei hatte sich das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/159
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/159>, abgerufen am 27.09.2024.