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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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berühmten Gästen zu nehmen, welche das Haus zeitweilig füllten, aber den
Löwenantheil der Einnahme in der Regel mit nach Hause führten und im
Uebrigen nnr dazu beitrugen, den Abstand zwischen sich und dem heimischen
Personal dem Publikum auffällig fühlbar zu machen und dadurch die beschei¬
denen heimischen Kräfte gründlich zu diskreditiren. Nach dem Ruin zweier
Direktionen versucht jetzt eine dritte ihr Heil mit diesem gründlich verfahrenen
Thespiskarren. Der gegenwärtige Leiter, ein alerter Geschäftsmann, hat wenig¬
stens den Vorzug, daß er in den trostlosesten Situationen den Kopf oben be¬
hält. Er wird von einem Optimismus beseelt, der ihn selbst darüber hinweg
sehen läßt, daß gegenwärtig in seinem Theater die dramatische Kunst von der
hoffnungslosesten Gesellschaft von Anfängern, neben denen allerdings auch
einige verdiente Theaterveteranen zu wirken verurtheilt sind, vertreten wird.
Im Grunde genommen dient diese Gesellschaft auch nur den Gästen als Folie.
Der Direktor des Stadttheaters hat es nämlich zu Wege gebracht, daß das
Gastiren einzelner Schauspieler und Schauspielerinnen zu einem überwundenen
Standpunkt geworden ist. Seiner glühenden Beredtsamkeit und seinem hoff-
nungsfreudigen Optimismus gelingt es stets, eine kleine Schaar von zug¬
kräftigen Gästen zu bewegen, sich seinem lecken Fahrzeuge für eine kurze Fahrt
anzuvertrauen. Heute gastirt der Direktor des Wallnertheaters mit einem
Theile seines gerade unbeschäftigten Personals in einem derben schwanke,
morgen seine erste Soubrette in einer alten Lokalposse, übermorgen ein beliebter
Bonvivant in einer feinen französischen Komödie und am vierten Tage eine
anderswo verkannte Tragödin als Medea oder Judith. Kann man sich eine
hübschere Musterkarte wünschen? Ist der Direktor aber einmal gezwungen,
mit seinem eigenen Personale zu operiren, so muß er zu Novitäten greifen,
denen eine ganz besondere Anziehungskraft innewohnt. Da bleibt ihm aber
keine große Auswahl. Da die deutsche Bühnenliteratur momentan nur über
fünf bis sechs produktive Talente verfügt, welche kontraktlich an gewisse
Bühnen gebunden sind -- es werden ja förmliche Kontrakte auf jährliche
Lieferungen abgeschlossen --', so bleibt dem Beklagenswerthen nur der eine
Ausweg, sein Heil bei der französischen Literatur zu suchen. Die englische
Bnhnenproduktion kommt, nebenbei bemerkt, nicht in Betracht, da sie sich un¬
gefähr auf dem Niveau unserer Zirkuspantomimen bewegt, nur mit dem Unter¬
schiede, daß die Laune des Zuschauers noch durch einen begleitenden Text
verdorben wird. Die französische Bühnenliteratur ist aber bei uns ein sehr
gesuchter Artikel, der überdies von zwei oder drei Theateragenten vollkommen
monopolartig ausgebeutet wird. Der eine exploitirt die Stücke von Dumas
und Sardon, der andere die Dramen von Angler, der dritte die Schwänke von
Hennequin, und da das Residenztheater, von dem später die Rede sein wird,


berühmten Gästen zu nehmen, welche das Haus zeitweilig füllten, aber den
Löwenantheil der Einnahme in der Regel mit nach Hause führten und im
Uebrigen nnr dazu beitrugen, den Abstand zwischen sich und dem heimischen
Personal dem Publikum auffällig fühlbar zu machen und dadurch die beschei¬
denen heimischen Kräfte gründlich zu diskreditiren. Nach dem Ruin zweier
Direktionen versucht jetzt eine dritte ihr Heil mit diesem gründlich verfahrenen
Thespiskarren. Der gegenwärtige Leiter, ein alerter Geschäftsmann, hat wenig¬
stens den Vorzug, daß er in den trostlosesten Situationen den Kopf oben be¬
hält. Er wird von einem Optimismus beseelt, der ihn selbst darüber hinweg
sehen läßt, daß gegenwärtig in seinem Theater die dramatische Kunst von der
hoffnungslosesten Gesellschaft von Anfängern, neben denen allerdings auch
einige verdiente Theaterveteranen zu wirken verurtheilt sind, vertreten wird.
Im Grunde genommen dient diese Gesellschaft auch nur den Gästen als Folie.
Der Direktor des Stadttheaters hat es nämlich zu Wege gebracht, daß das
Gastiren einzelner Schauspieler und Schauspielerinnen zu einem überwundenen
Standpunkt geworden ist. Seiner glühenden Beredtsamkeit und seinem hoff-
nungsfreudigen Optimismus gelingt es stets, eine kleine Schaar von zug¬
kräftigen Gästen zu bewegen, sich seinem lecken Fahrzeuge für eine kurze Fahrt
anzuvertrauen. Heute gastirt der Direktor des Wallnertheaters mit einem
Theile seines gerade unbeschäftigten Personals in einem derben schwanke,
morgen seine erste Soubrette in einer alten Lokalposse, übermorgen ein beliebter
Bonvivant in einer feinen französischen Komödie und am vierten Tage eine
anderswo verkannte Tragödin als Medea oder Judith. Kann man sich eine
hübschere Musterkarte wünschen? Ist der Direktor aber einmal gezwungen,
mit seinem eigenen Personale zu operiren, so muß er zu Novitäten greifen,
denen eine ganz besondere Anziehungskraft innewohnt. Da bleibt ihm aber
keine große Auswahl. Da die deutsche Bühnenliteratur momentan nur über
fünf bis sechs produktive Talente verfügt, welche kontraktlich an gewisse
Bühnen gebunden sind — es werden ja förmliche Kontrakte auf jährliche
Lieferungen abgeschlossen —', so bleibt dem Beklagenswerthen nur der eine
Ausweg, sein Heil bei der französischen Literatur zu suchen. Die englische
Bnhnenproduktion kommt, nebenbei bemerkt, nicht in Betracht, da sie sich un¬
gefähr auf dem Niveau unserer Zirkuspantomimen bewegt, nur mit dem Unter¬
schiede, daß die Laune des Zuschauers noch durch einen begleitenden Text
verdorben wird. Die französische Bühnenliteratur ist aber bei uns ein sehr
gesuchter Artikel, der überdies von zwei oder drei Theateragenten vollkommen
monopolartig ausgebeutet wird. Der eine exploitirt die Stücke von Dumas
und Sardon, der andere die Dramen von Angler, der dritte die Schwänke von
Hennequin, und da das Residenztheater, von dem später die Rede sein wird,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/154>, abgerufen am 27.09.2024.