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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Das Thema des folgenden Abschnittes lautet: "Charles Darwin. Vor¬
bildung und Aufbau seines Systems bis zum Betreten des anthropologischen
Gebiets (1831 -- 1868)". Es ist vor allem das epochemachende Buch "Vom
Ursprung der Arten in Folge von Naturzüchtung oder die Erhaltung der be¬
günstigsten Racen im Kampfe um's Dasein" 1859, auf das hier unsere Auf¬
merksamkeit gelenkt wird. Dasselbe will unter Berücksichtigung der unbegrenzten
Naturgesetze der Vererbung, der Variirungs- und Differenziirungstendeuz, der
Ueberproduktion mit ihrer unvermeidlichen Folge eines Zugrundegehens eines
beträchtlichen Theiles der überzähligen Individuen, endlich des Uebrigbleibens
der lebensfähigsten und zumeist begünstigten neue und gründliche Wege zum
Ziel einer rein mechanischen Erklärung des Werdeprozesses der organischen
Natur einschlagen. Die Voraussetzung ungeheuerer Zeiträume, die Hoffnung,
später vorhandene Lücken auszufüllen, fehlende Mittelglieder aufzufinden, muß
über die Mängel der Theorie hinweghelfen. Das Endergebniß Darwin's
lautet: "Ich glaube, daß die Thiere von höchstens vier oder fünf Stammeltern
abstammen, die Pflanzen von der gleichen oder einer noch geringeren Zahl. Ja
an der Hand der Analogie möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und
annehmen, daß alle Thiere und Pflanzen von einem Prototyp entsprungen
sind." Diese wenigen Urformen, auf welche Darwin den gefammten vielmil-
lionenjährigen Entwickelungsprozeß zurückführt, denkt er als direkte Schöp¬
fungsprodukte Gottes. Dieser epochemachenden Schrift folgte 1868 das Werk:
"Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation".
Hier ist die Hypothese der Pangenesis entwickelt, nach welcher das Sichvererben
ähnlicher Züge und Eigenschaften von den Vorfahren auf ihre Nachkommen
darauf beruht, daß sämmtliche Zellen oder einfachste Formeinheiten des thieri¬
schen und pflanzlichen Organismus in Wahrheit doch wieder zusammengesetzt
und theilbar, d. h. zur Entlassung zahlreicher kleinster Keimchen aus sich be¬
fähigt seien. Diese winzigsten Keimchen vermöchten durch den ganzen Körper
der Pflanze oder des Thieres frei zu zirkuliren und im Falle des Zusammen¬
treffens mit anderen schon entwickelteren Keimchen von ihnen nahe benachbartem
Ursprünge sich zu eigentlichen Zellen zu entwickeln. Aus dem gehäuften Zu¬
sammentritt solcher sich neu bildenden Zellen von nahe aneinander grenzender
Abkunft erkläre sich einerseits die Reproduktion verloren gegangener Organe,
andererseits, wenn ihre Anhäufung mit einer Knospen-, El- oder Keimbildung
zusammenfalle, die Reproduktion des gefammten Organismus als eines dem
Mutterorganismus ähnlichen, also die Vererbung der Eigenschaften und des
Aussehens der Vorfahren auf ihre Nachkommen. Diese Hypothese hat Darwin
selbst als provisorische bezeichnet; da aber jene Zeittheilchen nie experimentell
sich werden nachweisen lassen, so wird sie nie aus dem Provisorium heraus-


Das Thema des folgenden Abschnittes lautet: „Charles Darwin. Vor¬
bildung und Aufbau seines Systems bis zum Betreten des anthropologischen
Gebiets (1831 — 1868)". Es ist vor allem das epochemachende Buch „Vom
Ursprung der Arten in Folge von Naturzüchtung oder die Erhaltung der be¬
günstigsten Racen im Kampfe um's Dasein" 1859, auf das hier unsere Auf¬
merksamkeit gelenkt wird. Dasselbe will unter Berücksichtigung der unbegrenzten
Naturgesetze der Vererbung, der Variirungs- und Differenziirungstendeuz, der
Ueberproduktion mit ihrer unvermeidlichen Folge eines Zugrundegehens eines
beträchtlichen Theiles der überzähligen Individuen, endlich des Uebrigbleibens
der lebensfähigsten und zumeist begünstigten neue und gründliche Wege zum
Ziel einer rein mechanischen Erklärung des Werdeprozesses der organischen
Natur einschlagen. Die Voraussetzung ungeheuerer Zeiträume, die Hoffnung,
später vorhandene Lücken auszufüllen, fehlende Mittelglieder aufzufinden, muß
über die Mängel der Theorie hinweghelfen. Das Endergebniß Darwin's
lautet: „Ich glaube, daß die Thiere von höchstens vier oder fünf Stammeltern
abstammen, die Pflanzen von der gleichen oder einer noch geringeren Zahl. Ja
an der Hand der Analogie möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und
annehmen, daß alle Thiere und Pflanzen von einem Prototyp entsprungen
sind." Diese wenigen Urformen, auf welche Darwin den gefammten vielmil-
lionenjährigen Entwickelungsprozeß zurückführt, denkt er als direkte Schöp¬
fungsprodukte Gottes. Dieser epochemachenden Schrift folgte 1868 das Werk:
„Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation".
Hier ist die Hypothese der Pangenesis entwickelt, nach welcher das Sichvererben
ähnlicher Züge und Eigenschaften von den Vorfahren auf ihre Nachkommen
darauf beruht, daß sämmtliche Zellen oder einfachste Formeinheiten des thieri¬
schen und pflanzlichen Organismus in Wahrheit doch wieder zusammengesetzt
und theilbar, d. h. zur Entlassung zahlreicher kleinster Keimchen aus sich be¬
fähigt seien. Diese winzigsten Keimchen vermöchten durch den ganzen Körper
der Pflanze oder des Thieres frei zu zirkuliren und im Falle des Zusammen¬
treffens mit anderen schon entwickelteren Keimchen von ihnen nahe benachbartem
Ursprünge sich zu eigentlichen Zellen zu entwickeln. Aus dem gehäuften Zu¬
sammentritt solcher sich neu bildenden Zellen von nahe aneinander grenzender
Abkunft erkläre sich einerseits die Reproduktion verloren gegangener Organe,
andererseits, wenn ihre Anhäufung mit einer Knospen-, El- oder Keimbildung
zusammenfalle, die Reproduktion des gefammten Organismus als eines dem
Mutterorganismus ähnlichen, also die Vererbung der Eigenschaften und des
Aussehens der Vorfahren auf ihre Nachkommen. Diese Hypothese hat Darwin
selbst als provisorische bezeichnet; da aber jene Zeittheilchen nie experimentell
sich werden nachweisen lassen, so wird sie nie aus dem Provisorium heraus-


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[0146] Das Thema des folgenden Abschnittes lautet: „Charles Darwin. Vor¬ bildung und Aufbau seines Systems bis zum Betreten des anthropologischen Gebiets (1831 — 1868)". Es ist vor allem das epochemachende Buch „Vom Ursprung der Arten in Folge von Naturzüchtung oder die Erhaltung der be¬ günstigsten Racen im Kampfe um's Dasein" 1859, auf das hier unsere Auf¬ merksamkeit gelenkt wird. Dasselbe will unter Berücksichtigung der unbegrenzten Naturgesetze der Vererbung, der Variirungs- und Differenziirungstendeuz, der Ueberproduktion mit ihrer unvermeidlichen Folge eines Zugrundegehens eines beträchtlichen Theiles der überzähligen Individuen, endlich des Uebrigbleibens der lebensfähigsten und zumeist begünstigten neue und gründliche Wege zum Ziel einer rein mechanischen Erklärung des Werdeprozesses der organischen Natur einschlagen. Die Voraussetzung ungeheuerer Zeiträume, die Hoffnung, später vorhandene Lücken auszufüllen, fehlende Mittelglieder aufzufinden, muß über die Mängel der Theorie hinweghelfen. Das Endergebniß Darwin's lautet: „Ich glaube, daß die Thiere von höchstens vier oder fünf Stammeltern abstammen, die Pflanzen von der gleichen oder einer noch geringeren Zahl. Ja an der Hand der Analogie möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und annehmen, daß alle Thiere und Pflanzen von einem Prototyp entsprungen sind." Diese wenigen Urformen, auf welche Darwin den gefammten vielmil- lionenjährigen Entwickelungsprozeß zurückführt, denkt er als direkte Schöp¬ fungsprodukte Gottes. Dieser epochemachenden Schrift folgte 1868 das Werk: „Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation". Hier ist die Hypothese der Pangenesis entwickelt, nach welcher das Sichvererben ähnlicher Züge und Eigenschaften von den Vorfahren auf ihre Nachkommen darauf beruht, daß sämmtliche Zellen oder einfachste Formeinheiten des thieri¬ schen und pflanzlichen Organismus in Wahrheit doch wieder zusammengesetzt und theilbar, d. h. zur Entlassung zahlreicher kleinster Keimchen aus sich be¬ fähigt seien. Diese winzigsten Keimchen vermöchten durch den ganzen Körper der Pflanze oder des Thieres frei zu zirkuliren und im Falle des Zusammen¬ treffens mit anderen schon entwickelteren Keimchen von ihnen nahe benachbartem Ursprünge sich zu eigentlichen Zellen zu entwickeln. Aus dem gehäuften Zu¬ sammentritt solcher sich neu bildenden Zellen von nahe aneinander grenzender Abkunft erkläre sich einerseits die Reproduktion verloren gegangener Organe, andererseits, wenn ihre Anhäufung mit einer Knospen-, El- oder Keimbildung zusammenfalle, die Reproduktion des gefammten Organismus als eines dem Mutterorganismus ähnlichen, also die Vererbung der Eigenschaften und des Aussehens der Vorfahren auf ihre Nachkommen. Diese Hypothese hat Darwin selbst als provisorische bezeichnet; da aber jene Zeittheilchen nie experimentell sich werden nachweisen lassen, so wird sie nie aus dem Provisorium heraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/146>, abgerufen am 27.09.2024.