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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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die vorgestellten Endziele des Wollens und Handelns, 3.) die absoluten Moral¬
prinzipien oder den "Urgrund" der Sittlichkeit, das sind diejenigen metaphysi¬
schen oder religiösen Grundansichten, durch welche sich die Reflexion in letzter
Instanz die Frage nach der Berechtigung und Nothwendigkeit sittlicher Forde¬
rungen beantwortet. Der hiermit bezeichnete Gedankenfortschritt weist allent¬
halben die verlassenen niederen Stufen oder unvollkommeneren Moralprinzipien
zugleich in ihrer relativen Berechtigung nach und kommt überall zu dem
Resultate, daß jene Prinzipien nur durch Einseitigkeit irren, ergänzt aber durch
die höheren und zu diesen emporgehoben einen wesentlichen Theil der Ge¬
sammtheit des ethischen Lebens und der ethischen Erkenntniß ausmachen. Die
Ergänzung macht sich schon formell aus dem Grunde nöthig, weil jede der
drei Klassen von Prinzipien eine ganz besondere Seite des ethischen Problems
beantwortet, so daß selbst das Wort "Prinzip" in Wahrheit für jeden der
drei Haupttheile etwas Anderes bedeutet. In der That finden wir, daß dem
entsprechend nicht blos ein Mal, sondern drei Mal nach jener Methode der
Anfstufung der Gipfel der höchsten Wahrheit erstiegen wird, in jedem Haupt¬
theile gleichsam eine andere Kuppe des Gipfels. So gelangt der erste Theil
-- wir lassen das, was wir die Vorhalle nannten, ungezählt -- in Beant¬
wortung der Frage nach den psychischen Motivirungsformen über die Stufen
der Geschmacksmoral und der Gefühlsmoral hinweg zur Vernunftmoral: letztere
bildet hier das Endresultat; die Form der Vernunfterkenntniß tritt als die
höchste, vollendetste Form der Willensbestimmung, wie als die einzige Wahr¬
heitsquelle der wissenschaftlichen Ethik, an das Ende dieser ersten Reihe von
Musterungen. Aber was nun ist das vernunftmäßig Gute? Welche Hand¬
lungen, also welche Ziele, gebietet die Vernunft unserm Willen? Die Ant¬
worten hierauf, obwohl sie von den Erörterungen des ersten Theiles nicht
völlig ausgeschlossen werden, bilden doch erst für den zweiten den eigentlichen
Gegenstand: wir lernen hier das "sozial-eudümonistische" Prinzip kennen, d. i.
das des Gesammtwohles, sodann das "evolutionistische" oder das der Kultur¬
entwickelung, zuletzt das Prinzip der sittlichen Weltordnung. Letzteres, in
welchem die versöhnende, einheitliche Zusammenfassung der beiden anderen
liegen soll, tritt eben deshalb hier als abschließendes Endergebniß hervor. Noch
weniger rein scheidet sich in der Ausführung der dritte Theil ab; allein die
Meinung ist doch auch hier, ein Problem zu stellen, das zu den vorher be¬
handelten neu hinzutritt, und nach einem "Prinzip" zu fragen in ganz anderem
Sinne als in den früheren Abschnitten. Es ist hier nicht mehr die Erkenntniß
des rechten Wollens, auch nicht mehr die des rechten Zieles, welche uns be¬
schäftigen soll -- obwohl die letztere eingemengt ist --, sondern die Erkenntniß
des höchsten Warum? für sittliches Wollen und sittliche Zielsetzung nach In-


die vorgestellten Endziele des Wollens und Handelns, 3.) die absoluten Moral¬
prinzipien oder den „Urgrund" der Sittlichkeit, das sind diejenigen metaphysi¬
schen oder religiösen Grundansichten, durch welche sich die Reflexion in letzter
Instanz die Frage nach der Berechtigung und Nothwendigkeit sittlicher Forde¬
rungen beantwortet. Der hiermit bezeichnete Gedankenfortschritt weist allent¬
halben die verlassenen niederen Stufen oder unvollkommeneren Moralprinzipien
zugleich in ihrer relativen Berechtigung nach und kommt überall zu dem
Resultate, daß jene Prinzipien nur durch Einseitigkeit irren, ergänzt aber durch
die höheren und zu diesen emporgehoben einen wesentlichen Theil der Ge¬
sammtheit des ethischen Lebens und der ethischen Erkenntniß ausmachen. Die
Ergänzung macht sich schon formell aus dem Grunde nöthig, weil jede der
drei Klassen von Prinzipien eine ganz besondere Seite des ethischen Problems
beantwortet, so daß selbst das Wort „Prinzip" in Wahrheit für jeden der
drei Haupttheile etwas Anderes bedeutet. In der That finden wir, daß dem
entsprechend nicht blos ein Mal, sondern drei Mal nach jener Methode der
Anfstufung der Gipfel der höchsten Wahrheit erstiegen wird, in jedem Haupt¬
theile gleichsam eine andere Kuppe des Gipfels. So gelangt der erste Theil
— wir lassen das, was wir die Vorhalle nannten, ungezählt — in Beant¬
wortung der Frage nach den psychischen Motivirungsformen über die Stufen
der Geschmacksmoral und der Gefühlsmoral hinweg zur Vernunftmoral: letztere
bildet hier das Endresultat; die Form der Vernunfterkenntniß tritt als die
höchste, vollendetste Form der Willensbestimmung, wie als die einzige Wahr¬
heitsquelle der wissenschaftlichen Ethik, an das Ende dieser ersten Reihe von
Musterungen. Aber was nun ist das vernunftmäßig Gute? Welche Hand¬
lungen, also welche Ziele, gebietet die Vernunft unserm Willen? Die Ant¬
worten hierauf, obwohl sie von den Erörterungen des ersten Theiles nicht
völlig ausgeschlossen werden, bilden doch erst für den zweiten den eigentlichen
Gegenstand: wir lernen hier das „sozial-eudümonistische" Prinzip kennen, d. i.
das des Gesammtwohles, sodann das „evolutionistische" oder das der Kultur¬
entwickelung, zuletzt das Prinzip der sittlichen Weltordnung. Letzteres, in
welchem die versöhnende, einheitliche Zusammenfassung der beiden anderen
liegen soll, tritt eben deshalb hier als abschließendes Endergebniß hervor. Noch
weniger rein scheidet sich in der Ausführung der dritte Theil ab; allein die
Meinung ist doch auch hier, ein Problem zu stellen, das zu den vorher be¬
handelten neu hinzutritt, und nach einem „Prinzip" zu fragen in ganz anderem
Sinne als in den früheren Abschnitten. Es ist hier nicht mehr die Erkenntniß
des rechten Wollens, auch nicht mehr die des rechten Zieles, welche uns be¬
schäftigen soll — obwohl die letztere eingemengt ist —, sondern die Erkenntniß
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[0102] die vorgestellten Endziele des Wollens und Handelns, 3.) die absoluten Moral¬ prinzipien oder den „Urgrund" der Sittlichkeit, das sind diejenigen metaphysi¬ schen oder religiösen Grundansichten, durch welche sich die Reflexion in letzter Instanz die Frage nach der Berechtigung und Nothwendigkeit sittlicher Forde¬ rungen beantwortet. Der hiermit bezeichnete Gedankenfortschritt weist allent¬ halben die verlassenen niederen Stufen oder unvollkommeneren Moralprinzipien zugleich in ihrer relativen Berechtigung nach und kommt überall zu dem Resultate, daß jene Prinzipien nur durch Einseitigkeit irren, ergänzt aber durch die höheren und zu diesen emporgehoben einen wesentlichen Theil der Ge¬ sammtheit des ethischen Lebens und der ethischen Erkenntniß ausmachen. Die Ergänzung macht sich schon formell aus dem Grunde nöthig, weil jede der drei Klassen von Prinzipien eine ganz besondere Seite des ethischen Problems beantwortet, so daß selbst das Wort „Prinzip" in Wahrheit für jeden der drei Haupttheile etwas Anderes bedeutet. In der That finden wir, daß dem entsprechend nicht blos ein Mal, sondern drei Mal nach jener Methode der Anfstufung der Gipfel der höchsten Wahrheit erstiegen wird, in jedem Haupt¬ theile gleichsam eine andere Kuppe des Gipfels. So gelangt der erste Theil — wir lassen das, was wir die Vorhalle nannten, ungezählt — in Beant¬ wortung der Frage nach den psychischen Motivirungsformen über die Stufen der Geschmacksmoral und der Gefühlsmoral hinweg zur Vernunftmoral: letztere bildet hier das Endresultat; die Form der Vernunfterkenntniß tritt als die höchste, vollendetste Form der Willensbestimmung, wie als die einzige Wahr¬ heitsquelle der wissenschaftlichen Ethik, an das Ende dieser ersten Reihe von Musterungen. Aber was nun ist das vernunftmäßig Gute? Welche Hand¬ lungen, also welche Ziele, gebietet die Vernunft unserm Willen? Die Ant¬ worten hierauf, obwohl sie von den Erörterungen des ersten Theiles nicht völlig ausgeschlossen werden, bilden doch erst für den zweiten den eigentlichen Gegenstand: wir lernen hier das „sozial-eudümonistische" Prinzip kennen, d. i. das des Gesammtwohles, sodann das „evolutionistische" oder das der Kultur¬ entwickelung, zuletzt das Prinzip der sittlichen Weltordnung. Letzteres, in welchem die versöhnende, einheitliche Zusammenfassung der beiden anderen liegen soll, tritt eben deshalb hier als abschließendes Endergebniß hervor. Noch weniger rein scheidet sich in der Ausführung der dritte Theil ab; allein die Meinung ist doch auch hier, ein Problem zu stellen, das zu den vorher be¬ handelten neu hinzutritt, und nach einem „Prinzip" zu fragen in ganz anderem Sinne als in den früheren Abschnitten. Es ist hier nicht mehr die Erkenntniß des rechten Wollens, auch nicht mehr die des rechten Zieles, welche uns be¬ schäftigen soll — obwohl die letztere eingemengt ist —, sondern die Erkenntniß des höchsten Warum? für sittliches Wollen und sittliche Zielsetzung nach In-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/102>, abgerufen am 28.09.2024.