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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Sophie zugestanden, einer geschichtlichen Empirie überließ. Hartmann's Pessi¬
mismus steigerte diese Trennung bis zum Gegensatze von Vernunft und Un¬
vernunft. Er entfernte allerdings das Werk des Meisters zu seinem Vortheil
aus dem mystischen Farbenschimmer des byzantinischen Doms, worin jener es
aufgestellt, und entledigte es der Attribute christlicher Orthodoxie; aber auch
Arme und Haupt hat er der Statue abgeschlagen, die ihr allein den Ausdruck
eines hohen, edeln Jdealglaubens liehen. Wahrlich, sehen wir jetzt den Torso
stehen, zwar auf neuem "empirischen" Postament, aber traurig ergänzt, und
noch dazu beschmutzt und bestoßen vom Samstagsverkehr und Straßenstaube
der Großstadt -- wir besorgen, Wenige werden es glaubhaft finden, daß wir
in ihm die geretteten Ueberreste einer Schöpfung besitzen, die den Geist von
Schelling's "Rede über die bildende Kunst" noch erkennen ließ, und deren
Stilformen wir aus dem Gespräch "Clara", aus den "Weltaltern" und so
manchen anderen, noch jüngeren Stücken des Schelling'schen Nachlasses kennen.

Das jüngste Werk Hartmann's, das uns zu diesen Betrachtungen den
Anlaß bot,nennt sich "Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins"*) --
ein Buch von nahezu 900 Seiten, bestimmt, die "Prolegomena zu jeder künf¬
tigen Ethik" zu enthalten. Es liegt ihm ein großartiger Plan zu Grunde,
und gern wird man zugestehen, daß derselbe auf tüchtige Studien aufgebaut
und mit Klarheit durchgeführt ist, ja daß das Werk, bei seiner Ausdehnung
doch aus einem Gusse, in frischem, energischem Festhalten des Tones geschrieben,
im Ganzen nicht ohne imponirende Wirkung bleibt. Seine Absicht ist, alle
Moralprinzipien, welche jemals aufgestellt worden sind oder etwa aufgestellt
werden könnten, in systematischer Folge die Revue passiren zu lassen,-um zu
zeigen, wie ein normaler Gedankenfortschritt aus dem schlechtesten und un¬
brauchbarsten dieser Prinzipien zu dem nächst besseren überleitet, und so fort,
bis das höchste und allein vollkommen wahre erkannt ist. Die durch diesen
Plan auffällig genug hervortretende Aehnlichkeit mit Hegel's "Phänomenologie
des Geistes" hat die Wahl des Titels veranlaßt. Auch die Gliederung zeigt
Aehnlichkeiten. Zuerst werden uns in einer Vorhalle die "Pseudo-Moralprin-
zipien" vorgeführt: das "individual-eudämonistische" Prinzip oder die Selbst¬
sucht, welche durch die pessimistischen Ueberzeugungen zum Bankerott getrieben
wird, und das "heteronome" oder "autoritative" Prinzip, d. i. die Abhängig¬
keit von fremdem Willen. Der nun folgende eigentliche Hauptkörper des
Werkes bringt die in Wahrheit erst so zu nennenden Moralprinzipien zur
Besprechung, und zwar 1.) die subjektiven, das sind die psychologischen Formen,
in welche sich die Motive unseres Willens kleiden, 2.) die objektiven, das sind



*) Berlin, Carl Duncker's Verlag (C. Heymons) 1879.
Grenzlwten II. 1879.

Sophie zugestanden, einer geschichtlichen Empirie überließ. Hartmann's Pessi¬
mismus steigerte diese Trennung bis zum Gegensatze von Vernunft und Un¬
vernunft. Er entfernte allerdings das Werk des Meisters zu seinem Vortheil
aus dem mystischen Farbenschimmer des byzantinischen Doms, worin jener es
aufgestellt, und entledigte es der Attribute christlicher Orthodoxie; aber auch
Arme und Haupt hat er der Statue abgeschlagen, die ihr allein den Ausdruck
eines hohen, edeln Jdealglaubens liehen. Wahrlich, sehen wir jetzt den Torso
stehen, zwar auf neuem „empirischen" Postament, aber traurig ergänzt, und
noch dazu beschmutzt und bestoßen vom Samstagsverkehr und Straßenstaube
der Großstadt — wir besorgen, Wenige werden es glaubhaft finden, daß wir
in ihm die geretteten Ueberreste einer Schöpfung besitzen, die den Geist von
Schelling's „Rede über die bildende Kunst" noch erkennen ließ, und deren
Stilformen wir aus dem Gespräch „Clara", aus den „Weltaltern" und so
manchen anderen, noch jüngeren Stücken des Schelling'schen Nachlasses kennen.

Das jüngste Werk Hartmann's, das uns zu diesen Betrachtungen den
Anlaß bot,nennt sich „Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins"*) —
ein Buch von nahezu 900 Seiten, bestimmt, die „Prolegomena zu jeder künf¬
tigen Ethik" zu enthalten. Es liegt ihm ein großartiger Plan zu Grunde,
und gern wird man zugestehen, daß derselbe auf tüchtige Studien aufgebaut
und mit Klarheit durchgeführt ist, ja daß das Werk, bei seiner Ausdehnung
doch aus einem Gusse, in frischem, energischem Festhalten des Tones geschrieben,
im Ganzen nicht ohne imponirende Wirkung bleibt. Seine Absicht ist, alle
Moralprinzipien, welche jemals aufgestellt worden sind oder etwa aufgestellt
werden könnten, in systematischer Folge die Revue passiren zu lassen,-um zu
zeigen, wie ein normaler Gedankenfortschritt aus dem schlechtesten und un¬
brauchbarsten dieser Prinzipien zu dem nächst besseren überleitet, und so fort,
bis das höchste und allein vollkommen wahre erkannt ist. Die durch diesen
Plan auffällig genug hervortretende Aehnlichkeit mit Hegel's „Phänomenologie
des Geistes" hat die Wahl des Titels veranlaßt. Auch die Gliederung zeigt
Aehnlichkeiten. Zuerst werden uns in einer Vorhalle die „Pseudo-Moralprin-
zipien" vorgeführt: das „individual-eudämonistische" Prinzip oder die Selbst¬
sucht, welche durch die pessimistischen Ueberzeugungen zum Bankerott getrieben
wird, und das „heteronome" oder „autoritative" Prinzip, d. i. die Abhängig¬
keit von fremdem Willen. Der nun folgende eigentliche Hauptkörper des
Werkes bringt die in Wahrheit erst so zu nennenden Moralprinzipien zur
Besprechung, und zwar 1.) die subjektiven, das sind die psychologischen Formen,
in welche sich die Motive unseres Willens kleiden, 2.) die objektiven, das sind



*) Berlin, Carl Duncker's Verlag (C. Heymons) 1879.
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[0101] Sophie zugestanden, einer geschichtlichen Empirie überließ. Hartmann's Pessi¬ mismus steigerte diese Trennung bis zum Gegensatze von Vernunft und Un¬ vernunft. Er entfernte allerdings das Werk des Meisters zu seinem Vortheil aus dem mystischen Farbenschimmer des byzantinischen Doms, worin jener es aufgestellt, und entledigte es der Attribute christlicher Orthodoxie; aber auch Arme und Haupt hat er der Statue abgeschlagen, die ihr allein den Ausdruck eines hohen, edeln Jdealglaubens liehen. Wahrlich, sehen wir jetzt den Torso stehen, zwar auf neuem „empirischen" Postament, aber traurig ergänzt, und noch dazu beschmutzt und bestoßen vom Samstagsverkehr und Straßenstaube der Großstadt — wir besorgen, Wenige werden es glaubhaft finden, daß wir in ihm die geretteten Ueberreste einer Schöpfung besitzen, die den Geist von Schelling's „Rede über die bildende Kunst" noch erkennen ließ, und deren Stilformen wir aus dem Gespräch „Clara", aus den „Weltaltern" und so manchen anderen, noch jüngeren Stücken des Schelling'schen Nachlasses kennen. Das jüngste Werk Hartmann's, das uns zu diesen Betrachtungen den Anlaß bot,nennt sich „Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins"*) — ein Buch von nahezu 900 Seiten, bestimmt, die „Prolegomena zu jeder künf¬ tigen Ethik" zu enthalten. Es liegt ihm ein großartiger Plan zu Grunde, und gern wird man zugestehen, daß derselbe auf tüchtige Studien aufgebaut und mit Klarheit durchgeführt ist, ja daß das Werk, bei seiner Ausdehnung doch aus einem Gusse, in frischem, energischem Festhalten des Tones geschrieben, im Ganzen nicht ohne imponirende Wirkung bleibt. Seine Absicht ist, alle Moralprinzipien, welche jemals aufgestellt worden sind oder etwa aufgestellt werden könnten, in systematischer Folge die Revue passiren zu lassen,-um zu zeigen, wie ein normaler Gedankenfortschritt aus dem schlechtesten und un¬ brauchbarsten dieser Prinzipien zu dem nächst besseren überleitet, und so fort, bis das höchste und allein vollkommen wahre erkannt ist. Die durch diesen Plan auffällig genug hervortretende Aehnlichkeit mit Hegel's „Phänomenologie des Geistes" hat die Wahl des Titels veranlaßt. Auch die Gliederung zeigt Aehnlichkeiten. Zuerst werden uns in einer Vorhalle die „Pseudo-Moralprin- zipien" vorgeführt: das „individual-eudämonistische" Prinzip oder die Selbst¬ sucht, welche durch die pessimistischen Ueberzeugungen zum Bankerott getrieben wird, und das „heteronome" oder „autoritative" Prinzip, d. i. die Abhängig¬ keit von fremdem Willen. Der nun folgende eigentliche Hauptkörper des Werkes bringt die in Wahrheit erst so zu nennenden Moralprinzipien zur Besprechung, und zwar 1.) die subjektiven, das sind die psychologischen Formen, in welche sich die Motive unseres Willens kleiden, 2.) die objektiven, das sind *) Berlin, Carl Duncker's Verlag (C. Heymons) 1879. Grenzlwten II. 1879.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/101>, abgerufen am 28.09.2024.