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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Vorstellungswelt, einer "Maja", in der sich das wahrhafte eine Sein nur
trügerisch in die Formen von Raum und Zeit hüllt. Keine Rede von einem
romantischen Flüchten in die Welt des Lichtes und des Tones, von einer Selig¬
keit der Kontemplation im reinen Aether der Idee. Nichts liegt Hartmann
serner als die Aesthetik und ein Schwelgen in Gefühlen. Er steht mitten im
Treiben unserer Alltagswelt; von Nichts erfüllt und angeregt, als von den
Sorgen und Fragen der unmittelbaren Gegenwart, in der Hingebung an die
aufregenden Probleme der Zeit und in der eingehendsten Beurtheilung der
schwebenden Parteikämpfe das völlige Widerspiel Schopenhauer's, ruft er uns
zu, völlig einstimmend in den allgemeinen Chor: Arbeiten! Ringen! Kämpfen!
Weiterdahinbrausen im Dampfzuge des "Fortschritts"! In der wissenschaft¬
lichen Methode sucht er ausdrücklich und geflissentlich Fühlung mit naturwis¬
senschaftlicher Empirie und verarbeitet in reichlicher Sachkenntniß die Lieblings¬
hypothesen heutiger Naturforschung, während Schopenhauer noch mit philoso¬
phischer suffisance den Physikern die Goethe'sche Farbenlehre als Evangelium
entgegenhielt. Schopenhauer's Schriften wuchsen noch ganz ans dem Schrift¬
stellerideal unserer dichterischen Periode heraus: sie strotzen von geistreichen
Pointen, blendenden Einfällen, göttlichen Grobheiten, glücklich gegriffenen Citaten
aus einer unübersehbaren Literaturkenntniß. Hartmann's Schreibweise kennt
von allen solchen Würzen nur -- den Cynismus, in hin und wieder einge¬
streuten Ausbrüchen eiues Übeln Humors, die jeder originalen Kraft entbehren,
durch eine ungenirte platte Derbheit -- in unverkennbarer Lokalfarbe --
lediglich aus dem Stil der sonst glatten, objektiven, verstandesklaren Darstellung
herausfallen und durch Gefühllosigkeit verletzen. Mußten wir endlich im großen
geschichtlichen Zusammenhange der philosophischen Systeme des Jahrhunderts
es völlig angemessen finden, daß den Lehren von einer unlebendigen, blinden
Nothwendigkeit Versuche von Willensphilosophie, von Philosophieen der freien
That folgten, so genügt auch dieser Forderung Hartmann, wie Schopenhauer,
aber wiederum angemessener als dieser, dem realistischen Sinne der Zeit. Dies
schon darum, weil Schopenhauer's Urwille nur eine geträumte Vorstellungs¬
welt schuf, Hartmann aber den Schöpferwillen seines "Unbewußten" in Raum-
und Zeitformen seinen Inhalt gießen läßt, die so wirklich sind, wie wir sie
vorstellen. Und nicht mehr in Kant, Fichte und in jener Keimgestalt der nen-
schelling'schen Lehre, wie sie im Jahre 1809 noch unerschlossen an's Licht ge¬
treten, findet Hartmann die Ansatzpunkte für die Einreihung seiner eigenen
Philosophie in den großen Strom deutscher Spekulation, sondern es ist die
entwickeltere, jüngere Ausgestaltung des Neuschellingianismus, an die er sich
anlehnt. Hier fand er eine Trennung vor zwischen dem Reiche der Vernunft
und dem Reiche der Wirklichkeit, die das letztere mehr, als jemals die Philo-


Vorstellungswelt, einer „Maja", in der sich das wahrhafte eine Sein nur
trügerisch in die Formen von Raum und Zeit hüllt. Keine Rede von einem
romantischen Flüchten in die Welt des Lichtes und des Tones, von einer Selig¬
keit der Kontemplation im reinen Aether der Idee. Nichts liegt Hartmann
serner als die Aesthetik und ein Schwelgen in Gefühlen. Er steht mitten im
Treiben unserer Alltagswelt; von Nichts erfüllt und angeregt, als von den
Sorgen und Fragen der unmittelbaren Gegenwart, in der Hingebung an die
aufregenden Probleme der Zeit und in der eingehendsten Beurtheilung der
schwebenden Parteikämpfe das völlige Widerspiel Schopenhauer's, ruft er uns
zu, völlig einstimmend in den allgemeinen Chor: Arbeiten! Ringen! Kämpfen!
Weiterdahinbrausen im Dampfzuge des „Fortschritts"! In der wissenschaft¬
lichen Methode sucht er ausdrücklich und geflissentlich Fühlung mit naturwis¬
senschaftlicher Empirie und verarbeitet in reichlicher Sachkenntniß die Lieblings¬
hypothesen heutiger Naturforschung, während Schopenhauer noch mit philoso¬
phischer suffisance den Physikern die Goethe'sche Farbenlehre als Evangelium
entgegenhielt. Schopenhauer's Schriften wuchsen noch ganz ans dem Schrift¬
stellerideal unserer dichterischen Periode heraus: sie strotzen von geistreichen
Pointen, blendenden Einfällen, göttlichen Grobheiten, glücklich gegriffenen Citaten
aus einer unübersehbaren Literaturkenntniß. Hartmann's Schreibweise kennt
von allen solchen Würzen nur — den Cynismus, in hin und wieder einge¬
streuten Ausbrüchen eiues Übeln Humors, die jeder originalen Kraft entbehren,
durch eine ungenirte platte Derbheit — in unverkennbarer Lokalfarbe —
lediglich aus dem Stil der sonst glatten, objektiven, verstandesklaren Darstellung
herausfallen und durch Gefühllosigkeit verletzen. Mußten wir endlich im großen
geschichtlichen Zusammenhange der philosophischen Systeme des Jahrhunderts
es völlig angemessen finden, daß den Lehren von einer unlebendigen, blinden
Nothwendigkeit Versuche von Willensphilosophie, von Philosophieen der freien
That folgten, so genügt auch dieser Forderung Hartmann, wie Schopenhauer,
aber wiederum angemessener als dieser, dem realistischen Sinne der Zeit. Dies
schon darum, weil Schopenhauer's Urwille nur eine geträumte Vorstellungs¬
welt schuf, Hartmann aber den Schöpferwillen seines „Unbewußten" in Raum-
und Zeitformen seinen Inhalt gießen läßt, die so wirklich sind, wie wir sie
vorstellen. Und nicht mehr in Kant, Fichte und in jener Keimgestalt der nen-
schelling'schen Lehre, wie sie im Jahre 1809 noch unerschlossen an's Licht ge¬
treten, findet Hartmann die Ansatzpunkte für die Einreihung seiner eigenen
Philosophie in den großen Strom deutscher Spekulation, sondern es ist die
entwickeltere, jüngere Ausgestaltung des Neuschellingianismus, an die er sich
anlehnt. Hier fand er eine Trennung vor zwischen dem Reiche der Vernunft
und dem Reiche der Wirklichkeit, die das letztere mehr, als jemals die Philo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/100>, abgerufen am 28.09.2024.