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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Die Gründung neuer Innungen.

Die Bestrebungen der kleinen Gewerbe, sich durch neue Organisationen
sowohl der Großindustrie, als auch der Arbeiterschaft gegenüber eine festere
Position wiederzuerobern, machen augenblicklich mit Recht viel von sich reden.
Die Einen erwarten von ihnen wenn auch nicht gerade alles Heil der Zukunft,
so doch eine bedeutende Hebung unserer Volkswirthschaft und eine Besserung
in der sittlichen Führung der Volksmassen, die Anderen fürchten einen Rückfall
in die alten Zunftzustände und eine Erstickung eher, als eine Belebung der
freien Entfaltung unserer Gewerbthätigkeit. Alle aber haben das dumpfe
Gefühl, daß etwas geschehen müsse, damit das kleine Gewerbe sich nicht blos
in die Bedingungen der modernen Produktion füge, sondern als ein nothwen¬
diges und wichtiges Glied derselben seine eigenthümlichen Aufgaben zu lösen
im Stande sei; nur sehlt für dies Etwas das erlösende Wort oder, was hier
mehr, vielleicht Alles ist, die erlösende That, nämlich die wirkliche Schöpfung
neuer, das Gewerbsleben fördernder Organisationen.

Der Uebergang vom handwerksmäßigen Betriebe des Gewerbes zur Gro߬
industrie hat sich bei uns zwar später, aber weit schneller als in anderen
Ländern vollzogen. Die nachtheiligen Wirkungen, die ein derartiger Uebergang
naturgemäß mit sich bringt, mußten in Folge dessen bei uns auch akuter zu Tage
treten, um so mehr als sie noch durch, mancherlei andere Umstände befördert
wurden, die anderswo ebenfalls nicht wirkten, wie die plötzliche bedeutende Ver¬
mehrung der umlaufenden Geldmittel, welche eine Verschiebung der Preise
hervorrief. Gerade in jene Zeit des Ueberganges fiel auch die Proklamirung
der'Gewerbefreiheit für ganz Deutschland, und es ist klar, daß der Kleinhand¬
werker alle Leiden, die ihn in gewerblicher Beziehung trafen, der Gesetzgebung
zur Last legte, während diese sowohl wie jene nichts als ein Ausfluß der ver¬
änderten wirthschaftlichen Verhältnisse waren. Die Gewerbeordnung hob die alten
Zünfte und Innungen keineswegs auf, aber sie entzog ihnen ihre Privilegien
und damit das letzte Stück Boden, auf dem sie ihr Leben noch kümmerlich
gefristet hatten. Im Grunde waren sie längst todt, ehe die Gewerbeord¬
nung ihren Tod besiegelte. Indem man sie formell bestehen ließ, hoffte
man, sie würden die Kraft haben, auf dem Boden der Gewerbefreiheit ein
neues und frisches Leben zu entfalten. Das war ein Irrthum, die Hoffnungen
wurden getäuscht. Wie wäre es aber auch anders möglich gewesen? Die¬
jenigen Gewerbetreibenden, die Thatkraft besaßen, waren natürlich bestrebt,
sich die neuen Verhältnisse möglichst zu Nutze zu machen; sie erweiterten ihren
Betrieb und gestalteten ihn unter Benutzung aller technischen Hilfsmittel, der


Die Gründung neuer Innungen.

Die Bestrebungen der kleinen Gewerbe, sich durch neue Organisationen
sowohl der Großindustrie, als auch der Arbeiterschaft gegenüber eine festere
Position wiederzuerobern, machen augenblicklich mit Recht viel von sich reden.
Die Einen erwarten von ihnen wenn auch nicht gerade alles Heil der Zukunft,
so doch eine bedeutende Hebung unserer Volkswirthschaft und eine Besserung
in der sittlichen Führung der Volksmassen, die Anderen fürchten einen Rückfall
in die alten Zunftzustände und eine Erstickung eher, als eine Belebung der
freien Entfaltung unserer Gewerbthätigkeit. Alle aber haben das dumpfe
Gefühl, daß etwas geschehen müsse, damit das kleine Gewerbe sich nicht blos
in die Bedingungen der modernen Produktion füge, sondern als ein nothwen¬
diges und wichtiges Glied derselben seine eigenthümlichen Aufgaben zu lösen
im Stande sei; nur sehlt für dies Etwas das erlösende Wort oder, was hier
mehr, vielleicht Alles ist, die erlösende That, nämlich die wirkliche Schöpfung
neuer, das Gewerbsleben fördernder Organisationen.

Der Uebergang vom handwerksmäßigen Betriebe des Gewerbes zur Gro߬
industrie hat sich bei uns zwar später, aber weit schneller als in anderen
Ländern vollzogen. Die nachtheiligen Wirkungen, die ein derartiger Uebergang
naturgemäß mit sich bringt, mußten in Folge dessen bei uns auch akuter zu Tage
treten, um so mehr als sie noch durch, mancherlei andere Umstände befördert
wurden, die anderswo ebenfalls nicht wirkten, wie die plötzliche bedeutende Ver¬
mehrung der umlaufenden Geldmittel, welche eine Verschiebung der Preise
hervorrief. Gerade in jene Zeit des Ueberganges fiel auch die Proklamirung
der'Gewerbefreiheit für ganz Deutschland, und es ist klar, daß der Kleinhand¬
werker alle Leiden, die ihn in gewerblicher Beziehung trafen, der Gesetzgebung
zur Last legte, während diese sowohl wie jene nichts als ein Ausfluß der ver¬
änderten wirthschaftlichen Verhältnisse waren. Die Gewerbeordnung hob die alten
Zünfte und Innungen keineswegs auf, aber sie entzog ihnen ihre Privilegien
und damit das letzte Stück Boden, auf dem sie ihr Leben noch kümmerlich
gefristet hatten. Im Grunde waren sie längst todt, ehe die Gewerbeord¬
nung ihren Tod besiegelte. Indem man sie formell bestehen ließ, hoffte
man, sie würden die Kraft haben, auf dem Boden der Gewerbefreiheit ein
neues und frisches Leben zu entfalten. Das war ein Irrthum, die Hoffnungen
wurden getäuscht. Wie wäre es aber auch anders möglich gewesen? Die¬
jenigen Gewerbetreibenden, die Thatkraft besaßen, waren natürlich bestrebt,
sich die neuen Verhältnisse möglichst zu Nutze zu machen; sie erweiterten ihren
Betrieb und gestalteten ihn unter Benutzung aller technischen Hilfsmittel, der


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[0497] Die Gründung neuer Innungen. Die Bestrebungen der kleinen Gewerbe, sich durch neue Organisationen sowohl der Großindustrie, als auch der Arbeiterschaft gegenüber eine festere Position wiederzuerobern, machen augenblicklich mit Recht viel von sich reden. Die Einen erwarten von ihnen wenn auch nicht gerade alles Heil der Zukunft, so doch eine bedeutende Hebung unserer Volkswirthschaft und eine Besserung in der sittlichen Führung der Volksmassen, die Anderen fürchten einen Rückfall in die alten Zunftzustände und eine Erstickung eher, als eine Belebung der freien Entfaltung unserer Gewerbthätigkeit. Alle aber haben das dumpfe Gefühl, daß etwas geschehen müsse, damit das kleine Gewerbe sich nicht blos in die Bedingungen der modernen Produktion füge, sondern als ein nothwen¬ diges und wichtiges Glied derselben seine eigenthümlichen Aufgaben zu lösen im Stande sei; nur sehlt für dies Etwas das erlösende Wort oder, was hier mehr, vielleicht Alles ist, die erlösende That, nämlich die wirkliche Schöpfung neuer, das Gewerbsleben fördernder Organisationen. Der Uebergang vom handwerksmäßigen Betriebe des Gewerbes zur Gro߬ industrie hat sich bei uns zwar später, aber weit schneller als in anderen Ländern vollzogen. Die nachtheiligen Wirkungen, die ein derartiger Uebergang naturgemäß mit sich bringt, mußten in Folge dessen bei uns auch akuter zu Tage treten, um so mehr als sie noch durch, mancherlei andere Umstände befördert wurden, die anderswo ebenfalls nicht wirkten, wie die plötzliche bedeutende Ver¬ mehrung der umlaufenden Geldmittel, welche eine Verschiebung der Preise hervorrief. Gerade in jene Zeit des Ueberganges fiel auch die Proklamirung der'Gewerbefreiheit für ganz Deutschland, und es ist klar, daß der Kleinhand¬ werker alle Leiden, die ihn in gewerblicher Beziehung trafen, der Gesetzgebung zur Last legte, während diese sowohl wie jene nichts als ein Ausfluß der ver¬ änderten wirthschaftlichen Verhältnisse waren. Die Gewerbeordnung hob die alten Zünfte und Innungen keineswegs auf, aber sie entzog ihnen ihre Privilegien und damit das letzte Stück Boden, auf dem sie ihr Leben noch kümmerlich gefristet hatten. Im Grunde waren sie längst todt, ehe die Gewerbeord¬ nung ihren Tod besiegelte. Indem man sie formell bestehen ließ, hoffte man, sie würden die Kraft haben, auf dem Boden der Gewerbefreiheit ein neues und frisches Leben zu entfalten. Das war ein Irrthum, die Hoffnungen wurden getäuscht. Wie wäre es aber auch anders möglich gewesen? Die¬ jenigen Gewerbetreibenden, die Thatkraft besaßen, waren natürlich bestrebt, sich die neuen Verhältnisse möglichst zu Nutze zu machen; sie erweiterten ihren Betrieb und gestalteten ihn unter Benutzung aller technischen Hilfsmittel, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/497>, abgerufen am 27.08.2024.