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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Alles durch wirklichen Kampf entschieden worden ist, und daß revolutionäre
Parteien niemals an Vergleich oder Verbindung mit anderen Parteien dachten,
deren Prinzipien den ihrigen fremd waren. So haben auch die russischen Par¬
teien die letzten zwanzig Jahre gehandelt. Stets haben die Konstitutionellen
("Jngilisty", Englisch-Gesinnte) jede Gemeinschaft mit den Sozialisten ver¬
schmäht, und diese wiederum selbst vor Gericht ihre Prinzipien immer behauptet
und den Konstitutionellen offene Feindschaft bewiesen. Wenn die unbestimmte
Formulirung eines Parteiprogrammes ein verzeihlicher Fehler wäre, die Ge¬
meinschaft mit einer prinzipiell feindlichen Partei wäre ein unverzeihlicher,
denn jeder Schritt nach dieser Richtung würde auf eine schiefe Ebene führen.
Daher keine Gemeinschaft zwischen Liberalen und Sozialisten.

Wenn aber prinzipielle Gründe dem Verfasser gegen solche zu sprechen
scheinen, praktische Erwägungen thun es nicht minder. "Zunächst," führt Tscher-
kesow aus, "fordern unsere Liberalen nichts. Um irgend etwas zu fordern, muß
man Hingabe an seine Ueberzeugungen besitzen, muß man die Entschlossenheit
haben, für sie zu leiden und unterzugehen. Aber in Rußland haben in den
letzten zwanzig Jahren nur die Sozialisten sich als Leute gezeigt, die ihren
Ueberzeugungen sich Hingaben und für sie unterzugehen wußten. Was unsere
Liberalen betrifft, so haben sie im Gegentheil bei den meisten Gelegenheiten
jeden Versuch von Seiten der Sozialisten, die Gesellschaft aus ihrem Schlafe
zu wecken, das Volk zum Bewußtsein seines Elendes und der wahren Quellen
seiner Armuth und Nichtigkeit zu bringen, feindselig sich entgegengestellt. Wenn
die Liberalen sich nicht zum Kampfe für ihre Ideale entschließen, dann wird
die Konstitution ein Geschenk von oben sein, wie es die Landtage, das neue
(Geschworenen-) Gericht, die "Freiheit der Presse" und andere >,große Reformen"
waren. Aber was gebe" diese Rechte uns, den Sozialisten, was geben sie dem
Volke?" Das Budgetrecht des Parlamentes wird die Steuerlast des Volkes,
nicht erleichtern; das Versammlung?- und Petitionsrecht ist auch in Frankreich,
der Schweiz, England, Nordamerika faktisch nicht vorhanden; das Recht der
Unverletzlichkeit der Person und des Hauses fehlt in vielen Konstitutionen und ist
überdies, wenn es auch formell besteht, ganz unsicher; die Preßfreiheit endlich
besteht in konstitutionellen Staaten faktisch so wenig wie in Rußland, wo man
unter der Herrschaft eines "gemilderten" Systems die Literatur ganzer Völker¬
schaften, wie der kleinrussischen, verbietet. "Also: kolossale Steuererhebungen
in einem erschöpften Volke, ein schwacher Schatten des Vereins- und Versamm¬
lungsrechtes, wenn etwas derart existiren sollte, der Mangel der Unverletzlich¬
keit des Hauses, das freie Wort ohne nationale Literaturen -- das sind die
Segnungen, die uns die Konstitution bringen wird. Sind das unsere Ideale?
Können wir sie um irgend welcher Anforderungen der Zeit willen verbinden


Alles durch wirklichen Kampf entschieden worden ist, und daß revolutionäre
Parteien niemals an Vergleich oder Verbindung mit anderen Parteien dachten,
deren Prinzipien den ihrigen fremd waren. So haben auch die russischen Par¬
teien die letzten zwanzig Jahre gehandelt. Stets haben die Konstitutionellen
(„Jngilisty", Englisch-Gesinnte) jede Gemeinschaft mit den Sozialisten ver¬
schmäht, und diese wiederum selbst vor Gericht ihre Prinzipien immer behauptet
und den Konstitutionellen offene Feindschaft bewiesen. Wenn die unbestimmte
Formulirung eines Parteiprogrammes ein verzeihlicher Fehler wäre, die Ge¬
meinschaft mit einer prinzipiell feindlichen Partei wäre ein unverzeihlicher,
denn jeder Schritt nach dieser Richtung würde auf eine schiefe Ebene führen.
Daher keine Gemeinschaft zwischen Liberalen und Sozialisten.

Wenn aber prinzipielle Gründe dem Verfasser gegen solche zu sprechen
scheinen, praktische Erwägungen thun es nicht minder. „Zunächst," führt Tscher-
kesow aus, „fordern unsere Liberalen nichts. Um irgend etwas zu fordern, muß
man Hingabe an seine Ueberzeugungen besitzen, muß man die Entschlossenheit
haben, für sie zu leiden und unterzugehen. Aber in Rußland haben in den
letzten zwanzig Jahren nur die Sozialisten sich als Leute gezeigt, die ihren
Ueberzeugungen sich Hingaben und für sie unterzugehen wußten. Was unsere
Liberalen betrifft, so haben sie im Gegentheil bei den meisten Gelegenheiten
jeden Versuch von Seiten der Sozialisten, die Gesellschaft aus ihrem Schlafe
zu wecken, das Volk zum Bewußtsein seines Elendes und der wahren Quellen
seiner Armuth und Nichtigkeit zu bringen, feindselig sich entgegengestellt. Wenn
die Liberalen sich nicht zum Kampfe für ihre Ideale entschließen, dann wird
die Konstitution ein Geschenk von oben sein, wie es die Landtage, das neue
(Geschworenen-) Gericht, die „Freiheit der Presse" und andere >,große Reformen"
waren. Aber was gebe« diese Rechte uns, den Sozialisten, was geben sie dem
Volke?" Das Budgetrecht des Parlamentes wird die Steuerlast des Volkes,
nicht erleichtern; das Versammlung?- und Petitionsrecht ist auch in Frankreich,
der Schweiz, England, Nordamerika faktisch nicht vorhanden; das Recht der
Unverletzlichkeit der Person und des Hauses fehlt in vielen Konstitutionen und ist
überdies, wenn es auch formell besteht, ganz unsicher; die Preßfreiheit endlich
besteht in konstitutionellen Staaten faktisch so wenig wie in Rußland, wo man
unter der Herrschaft eines „gemilderten" Systems die Literatur ganzer Völker¬
schaften, wie der kleinrussischen, verbietet. „Also: kolossale Steuererhebungen
in einem erschöpften Volke, ein schwacher Schatten des Vereins- und Versamm¬
lungsrechtes, wenn etwas derart existiren sollte, der Mangel der Unverletzlich¬
keit des Hauses, das freie Wort ohne nationale Literaturen — das sind die
Segnungen, die uns die Konstitution bringen wird. Sind das unsere Ideale?
Können wir sie um irgend welcher Anforderungen der Zeit willen verbinden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/494>, abgerufen am 26.08.2024.