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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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sches Zeugniß für die Grundgedanken, des russischen Nihilismus mitzutheilen.
Wir gehen nicht weiter ein auf den schneidenden Widerspruch, der zwischen der
vollen unbedingten Entfesselung der persönlichen Selbständigkeit und Willkür,
wie sie der Internationalist erstrebt, und seiner "Organisation der Arbeit", wie
sie doch nur durch den härtesten Zwang, also durch eine allmächtige Regierung
durchgeführt werden könnte, naturgemäß besteht; aber man begreift, welch' fcis-
zinirenden Eindruck diese Gedanken, die jeder staatlichen Ordnung prinzipiell
den Krieg erklären, in Rußland hervorbringen mußten, wo der kaiserliche Ab¬
solutismus die Bevölkerung ebensowohl daran gewöhnt hatte, Alles von ihm
zu erwarten, als Alles, das Gute und noch viel mehr das Schlimm^ auf seiue
Rechnung zu setzen, wo also jede Unzufriedenheit sich gleich direkt gegen das
ganze System richtet, und mit seinem Sturze Erlösung von allem Druck er¬
kauft zu werden scheint. Doch hören wir Shnkowskij die Fortschritte dieser
Propaganda weiter schildern.

"Mit jenem revolutionären Gedanken ging unsere Jugend in's Volk. Die
Petersburger Propagandistenkreise, die Moskaner Sozialisten gaben eine Menge
populärer Broschüren, Erzählungen und Fabeln heraus, in denen der Czar,
der Pope und der Edelmann als die theilbare Dreieinigkeit erscheinen, als die
Ursache aller Volksleiden. Die folgenden Prozesse und Reden unserer Propa¬
gandisten beweisen deutlich, daß sie auf dem sozialistisch-revolutionären Boden
der anarchischen Internationale stehen. In der Jugend der Ukraine erschienen
die autonomistischen und demokratischen Ideen mit neuer Stärke am Ende der
sechziger Jahre; die kleinrussischen Revolutionäre schlössen sich diesmal mehr
an den allgemein-europäischen Sozicilismns an. Die Herrscher zu Petersburg
fürchteten immer den ukrainischen Separatismus., aber so lauge Polen ihnen
gefährlich schien, hielten sie es für nützlich, wenn nicht die kofakische Freiheit,
so doch die kleinrussische Sprache zu dulden. Aber das aristokratische Polen
wurde bezwungen, und darüber wird der polnische Bauer nicht klagen. Die
Regierung vernichtete das Czarenthum Polen, die Wojewodschaften wurden zu
Gouvernements; in Wolynien und Podolien wurden von Alexander viele
russische Edelleute angesiedelt. Den ukrainischen Kosaken sür seinen Haß gegen
den polnischen Edelmann zu streicheln war schon nicht mehr nöthig. Die
Nepresalien nahmen auch in der Ukraine überHand: im Jahre 1876 wurde die
gesammte kleinrussische Literatur verboten. Der kaiserliche Befreier rüstete sich,
über die Donau zu ziehen, rüstete sich, "die Brüder des gesammt-russischen
Volkes" zu befreien, rüstete sich, "die Freiheit der christlichen Sklaven" gegen
die mnselmünnische Gewalt des Türken zu schützen. Wie schon einmal, so ver¬
bot in diesem "feierlichen Moment" seiner Regierung Alexander II. die klein¬
russische Literatur, die nach den Ueberlieferungen eines Volkes aufgeblüht war,


sches Zeugniß für die Grundgedanken, des russischen Nihilismus mitzutheilen.
Wir gehen nicht weiter ein auf den schneidenden Widerspruch, der zwischen der
vollen unbedingten Entfesselung der persönlichen Selbständigkeit und Willkür,
wie sie der Internationalist erstrebt, und seiner „Organisation der Arbeit", wie
sie doch nur durch den härtesten Zwang, also durch eine allmächtige Regierung
durchgeführt werden könnte, naturgemäß besteht; aber man begreift, welch' fcis-
zinirenden Eindruck diese Gedanken, die jeder staatlichen Ordnung prinzipiell
den Krieg erklären, in Rußland hervorbringen mußten, wo der kaiserliche Ab¬
solutismus die Bevölkerung ebensowohl daran gewöhnt hatte, Alles von ihm
zu erwarten, als Alles, das Gute und noch viel mehr das Schlimm^ auf seiue
Rechnung zu setzen, wo also jede Unzufriedenheit sich gleich direkt gegen das
ganze System richtet, und mit seinem Sturze Erlösung von allem Druck er¬
kauft zu werden scheint. Doch hören wir Shnkowskij die Fortschritte dieser
Propaganda weiter schildern.

„Mit jenem revolutionären Gedanken ging unsere Jugend in's Volk. Die
Petersburger Propagandistenkreise, die Moskaner Sozialisten gaben eine Menge
populärer Broschüren, Erzählungen und Fabeln heraus, in denen der Czar,
der Pope und der Edelmann als die theilbare Dreieinigkeit erscheinen, als die
Ursache aller Volksleiden. Die folgenden Prozesse und Reden unserer Propa¬
gandisten beweisen deutlich, daß sie auf dem sozialistisch-revolutionären Boden
der anarchischen Internationale stehen. In der Jugend der Ukraine erschienen
die autonomistischen und demokratischen Ideen mit neuer Stärke am Ende der
sechziger Jahre; die kleinrussischen Revolutionäre schlössen sich diesmal mehr
an den allgemein-europäischen Sozicilismns an. Die Herrscher zu Petersburg
fürchteten immer den ukrainischen Separatismus., aber so lauge Polen ihnen
gefährlich schien, hielten sie es für nützlich, wenn nicht die kofakische Freiheit,
so doch die kleinrussische Sprache zu dulden. Aber das aristokratische Polen
wurde bezwungen, und darüber wird der polnische Bauer nicht klagen. Die
Regierung vernichtete das Czarenthum Polen, die Wojewodschaften wurden zu
Gouvernements; in Wolynien und Podolien wurden von Alexander viele
russische Edelleute angesiedelt. Den ukrainischen Kosaken sür seinen Haß gegen
den polnischen Edelmann zu streicheln war schon nicht mehr nöthig. Die
Nepresalien nahmen auch in der Ukraine überHand: im Jahre 1876 wurde die
gesammte kleinrussische Literatur verboten. Der kaiserliche Befreier rüstete sich,
über die Donau zu ziehen, rüstete sich, „die Brüder des gesammt-russischen
Volkes" zu befreien, rüstete sich, „die Freiheit der christlichen Sklaven" gegen
die mnselmünnische Gewalt des Türken zu schützen. Wie schon einmal, so ver¬
bot in diesem „feierlichen Moment" seiner Regierung Alexander II. die klein¬
russische Literatur, die nach den Ueberlieferungen eines Volkes aufgeblüht war,


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[0491] sches Zeugniß für die Grundgedanken, des russischen Nihilismus mitzutheilen. Wir gehen nicht weiter ein auf den schneidenden Widerspruch, der zwischen der vollen unbedingten Entfesselung der persönlichen Selbständigkeit und Willkür, wie sie der Internationalist erstrebt, und seiner „Organisation der Arbeit", wie sie doch nur durch den härtesten Zwang, also durch eine allmächtige Regierung durchgeführt werden könnte, naturgemäß besteht; aber man begreift, welch' fcis- zinirenden Eindruck diese Gedanken, die jeder staatlichen Ordnung prinzipiell den Krieg erklären, in Rußland hervorbringen mußten, wo der kaiserliche Ab¬ solutismus die Bevölkerung ebensowohl daran gewöhnt hatte, Alles von ihm zu erwarten, als Alles, das Gute und noch viel mehr das Schlimm^ auf seiue Rechnung zu setzen, wo also jede Unzufriedenheit sich gleich direkt gegen das ganze System richtet, und mit seinem Sturze Erlösung von allem Druck er¬ kauft zu werden scheint. Doch hören wir Shnkowskij die Fortschritte dieser Propaganda weiter schildern. „Mit jenem revolutionären Gedanken ging unsere Jugend in's Volk. Die Petersburger Propagandistenkreise, die Moskaner Sozialisten gaben eine Menge populärer Broschüren, Erzählungen und Fabeln heraus, in denen der Czar, der Pope und der Edelmann als die theilbare Dreieinigkeit erscheinen, als die Ursache aller Volksleiden. Die folgenden Prozesse und Reden unserer Propa¬ gandisten beweisen deutlich, daß sie auf dem sozialistisch-revolutionären Boden der anarchischen Internationale stehen. In der Jugend der Ukraine erschienen die autonomistischen und demokratischen Ideen mit neuer Stärke am Ende der sechziger Jahre; die kleinrussischen Revolutionäre schlössen sich diesmal mehr an den allgemein-europäischen Sozicilismns an. Die Herrscher zu Petersburg fürchteten immer den ukrainischen Separatismus., aber so lauge Polen ihnen gefährlich schien, hielten sie es für nützlich, wenn nicht die kofakische Freiheit, so doch die kleinrussische Sprache zu dulden. Aber das aristokratische Polen wurde bezwungen, und darüber wird der polnische Bauer nicht klagen. Die Regierung vernichtete das Czarenthum Polen, die Wojewodschaften wurden zu Gouvernements; in Wolynien und Podolien wurden von Alexander viele russische Edelleute angesiedelt. Den ukrainischen Kosaken sür seinen Haß gegen den polnischen Edelmann zu streicheln war schon nicht mehr nöthig. Die Nepresalien nahmen auch in der Ukraine überHand: im Jahre 1876 wurde die gesammte kleinrussische Literatur verboten. Der kaiserliche Befreier rüstete sich, über die Donau zu ziehen, rüstete sich, „die Brüder des gesammt-russischen Volkes" zu befreien, rüstete sich, „die Freiheit der christlichen Sklaven" gegen die mnselmünnische Gewalt des Türken zu schützen. Wie schon einmal, so ver¬ bot in diesem „feierlichen Moment" seiner Regierung Alexander II. die klein¬ russische Literatur, die nach den Ueberlieferungen eines Volkes aufgeblüht war,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/491>, abgerufen am 26.08.2024.