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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Freunden abschloß,*) grundsätzlich wenig schrieb, in dem "Sich-selbst-leben" sich
gefiel und dabei in religiöse Zweifel gerieth, die ihm den Glauben an Christus
geraubt hatten. Es schwebte ihm nach Miller's Ansicht ein vordemonstrirtes
und in den Kopf hineinpolemisirtes Christenthum vor, dessen Nichtigkeit zu be¬
weisen ebenso fruchtlos als bei dem Naturell Kayser's gefährlich erschien. In
diese Periode des Zweifelns fällt auch die anderweitig verbürgte Anwandlung,
daß Kayser seine bisherige Wirksamkeit aufzugeben und der militärischen Lauf¬
bahn sich zu widmen gedachte, wovon ihn Goethe allein zurückgehalten habe,
mit dem er immer im Verkehr blieb. Die Liedersammlung Kayser's, die 1777
in die Oeffentlichkeit trat, verdankt zum guten Theil ihr Erscheinen der Thätig¬
keit Klinger's und Goethe's. Der letztere war es wohl, der das in die Goethe'-
schen Werke übergegangene Gedicht dem Werke als Motto beifügte.

Einen noch weit innigeren Verkehr aber bahnte Goethe mit dem Jahre
1779 an, nachdem er aus der Schweiz zurückgekehrt war und dem Jugend¬
freunde die Komposition des auf der Schweizerreise entstandenen Singspieles
"Jery und Bätely" aufgetragen hatte.

Wir übergehen das, was bereits über die Entstehung und Tendenz des
Stückes bekannt geworden ist**), und halten uns ausschließlich an die musikali¬
schen Intentionen Goethe's, auf die bis jetzt nur dürftige Streiflichter ge¬
fallen sind.

Bereits am 29. Dezember 1779 trat Goethe mit Kayser in Briefwechsel
und schrieb ihm von Frankfurt aus:

Nur eins muß ich noch vorläufig sagen: Ich bitte Sie darauf acht zu
geben, daß eigentlich dreierlei Arten von Gesängen drinne vorkommen.

Erstlich Lieder, von denen man supponiret, daß der Singende sie irgend¬
wo auswendig gelernt und sie nun in ein oder der andern Situation an¬
bringt. Diese können und müssen eigne, bestimmte und runde Melodien
haben, die auffallen und jedermann leicht behält.

Zweitens Arien, wo die Person die Empfindung des Augenblicks aus¬
drückt und, ganz in ihr verlohren, aus dem Grunde des Herzens singt. Diese
müssen einfach, wahr, rein vorgetragen werden von der sanftesten bis zu der




*) Grenzboten 1370. S. SOS. Miller an Kayser: "Wenns Grundsatz bey Dir ist,
nur selten zu schreiben, so will ich Dich in Deinem Schweigen nicht stören."
**) Vgl. den Aufsatz Düntzer's "Ueber Goethe's Jery u. Bätely" im Morgenblatt 184S
Ur. 11 und die Einleitung Strehlke's zu dem Stück im 9. Band der Hempel'schen Goethe-
Ausgabe; Düntzer, Neue Goethestudien S- 92.

Freunden abschloß,*) grundsätzlich wenig schrieb, in dem „Sich-selbst-leben" sich
gefiel und dabei in religiöse Zweifel gerieth, die ihm den Glauben an Christus
geraubt hatten. Es schwebte ihm nach Miller's Ansicht ein vordemonstrirtes
und in den Kopf hineinpolemisirtes Christenthum vor, dessen Nichtigkeit zu be¬
weisen ebenso fruchtlos als bei dem Naturell Kayser's gefährlich erschien. In
diese Periode des Zweifelns fällt auch die anderweitig verbürgte Anwandlung,
daß Kayser seine bisherige Wirksamkeit aufzugeben und der militärischen Lauf¬
bahn sich zu widmen gedachte, wovon ihn Goethe allein zurückgehalten habe,
mit dem er immer im Verkehr blieb. Die Liedersammlung Kayser's, die 1777
in die Oeffentlichkeit trat, verdankt zum guten Theil ihr Erscheinen der Thätig¬
keit Klinger's und Goethe's. Der letztere war es wohl, der das in die Goethe'-
schen Werke übergegangene Gedicht dem Werke als Motto beifügte.

Einen noch weit innigeren Verkehr aber bahnte Goethe mit dem Jahre
1779 an, nachdem er aus der Schweiz zurückgekehrt war und dem Jugend¬
freunde die Komposition des auf der Schweizerreise entstandenen Singspieles
„Jery und Bätely" aufgetragen hatte.

Wir übergehen das, was bereits über die Entstehung und Tendenz des
Stückes bekannt geworden ist**), und halten uns ausschließlich an die musikali¬
schen Intentionen Goethe's, auf die bis jetzt nur dürftige Streiflichter ge¬
fallen sind.

Bereits am 29. Dezember 1779 trat Goethe mit Kayser in Briefwechsel
und schrieb ihm von Frankfurt aus:

Nur eins muß ich noch vorläufig sagen: Ich bitte Sie darauf acht zu
geben, daß eigentlich dreierlei Arten von Gesängen drinne vorkommen.

Erstlich Lieder, von denen man supponiret, daß der Singende sie irgend¬
wo auswendig gelernt und sie nun in ein oder der andern Situation an¬
bringt. Diese können und müssen eigne, bestimmte und runde Melodien
haben, die auffallen und jedermann leicht behält.

Zweitens Arien, wo die Person die Empfindung des Augenblicks aus¬
drückt und, ganz in ihr verlohren, aus dem Grunde des Herzens singt. Diese
müssen einfach, wahr, rein vorgetragen werden von der sanftesten bis zu der




*) Grenzboten 1370. S. SOS. Miller an Kayser: „Wenns Grundsatz bey Dir ist,
nur selten zu schreiben, so will ich Dich in Deinem Schweigen nicht stören."
**) Vgl. den Aufsatz Düntzer's „Ueber Goethe's Jery u. Bätely" im Morgenblatt 184S
Ur. 11 und die Einleitung Strehlke's zu dem Stück im 9. Band der Hempel'schen Goethe-
Ausgabe; Düntzer, Neue Goethestudien S- 92.
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[0479] Freunden abschloß,*) grundsätzlich wenig schrieb, in dem „Sich-selbst-leben" sich gefiel und dabei in religiöse Zweifel gerieth, die ihm den Glauben an Christus geraubt hatten. Es schwebte ihm nach Miller's Ansicht ein vordemonstrirtes und in den Kopf hineinpolemisirtes Christenthum vor, dessen Nichtigkeit zu be¬ weisen ebenso fruchtlos als bei dem Naturell Kayser's gefährlich erschien. In diese Periode des Zweifelns fällt auch die anderweitig verbürgte Anwandlung, daß Kayser seine bisherige Wirksamkeit aufzugeben und der militärischen Lauf¬ bahn sich zu widmen gedachte, wovon ihn Goethe allein zurückgehalten habe, mit dem er immer im Verkehr blieb. Die Liedersammlung Kayser's, die 1777 in die Oeffentlichkeit trat, verdankt zum guten Theil ihr Erscheinen der Thätig¬ keit Klinger's und Goethe's. Der letztere war es wohl, der das in die Goethe'- schen Werke übergegangene Gedicht dem Werke als Motto beifügte. Einen noch weit innigeren Verkehr aber bahnte Goethe mit dem Jahre 1779 an, nachdem er aus der Schweiz zurückgekehrt war und dem Jugend¬ freunde die Komposition des auf der Schweizerreise entstandenen Singspieles „Jery und Bätely" aufgetragen hatte. Wir übergehen das, was bereits über die Entstehung und Tendenz des Stückes bekannt geworden ist**), und halten uns ausschließlich an die musikali¬ schen Intentionen Goethe's, auf die bis jetzt nur dürftige Streiflichter ge¬ fallen sind. Bereits am 29. Dezember 1779 trat Goethe mit Kayser in Briefwechsel und schrieb ihm von Frankfurt aus: Nur eins muß ich noch vorläufig sagen: Ich bitte Sie darauf acht zu geben, daß eigentlich dreierlei Arten von Gesängen drinne vorkommen. Erstlich Lieder, von denen man supponiret, daß der Singende sie irgend¬ wo auswendig gelernt und sie nun in ein oder der andern Situation an¬ bringt. Diese können und müssen eigne, bestimmte und runde Melodien haben, die auffallen und jedermann leicht behält. Zweitens Arien, wo die Person die Empfindung des Augenblicks aus¬ drückt und, ganz in ihr verlohren, aus dem Grunde des Herzens singt. Diese müssen einfach, wahr, rein vorgetragen werden von der sanftesten bis zu der *) Grenzboten 1370. S. SOS. Miller an Kayser: „Wenns Grundsatz bey Dir ist, nur selten zu schreiben, so will ich Dich in Deinem Schweigen nicht stören." **) Vgl. den Aufsatz Düntzer's „Ueber Goethe's Jery u. Bätely" im Morgenblatt 184S Ur. 11 und die Einleitung Strehlke's zu dem Stück im 9. Band der Hempel'schen Goethe- Ausgabe; Düntzer, Neue Goethestudien S- 92.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/479>, abgerufen am 23.07.2024.