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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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geschichte gebeten habe, und daß dieses Material eben das im Briefwechsel mit¬
getheilte sei.*)

Die bekannteste Probe ihrer "Pericopen" ist ja die durch Kaulbach's Illu¬
stration populär gewordene Erzählung Goethe's, wie er in dem langen, roth-
scnnmtnen Pelze seiner Mutter auf dem Maine Schlittschuh gefahren sei. Die Ge¬
schichte ist in allen Einzelheiten wahr, und wir wissen fast den Tag, an dein sie sich
zugetragen hat. Etwa vom 22. Januar 1774 ist das Briefchen, worin Goethe Frau
von La Roche, die damals eben das junge Ehepaar Brentano nach Frankfurt
begleitet hatte, zur Eispartie einlädt: "Ich bin im Stande Ihnen ein groses
Schauspiel zu geben, wenn Sie mir den morgenden Nachmittag schenken wollen
. . . Doch ob Sie können; mögte ich gleich wissen und daun soll morgen Nach¬
tische um ein Uhr die Kutsche vor Ihrer Thür stehn. Meine Mutter wird
dabei seyn und wir wollen die Bübgen sBrentano's Kinder^ mit nehmen."
Anfang Februar aber schreibt er an Betty Jacobi: "Vor zehn Tagen ungefähr
waren unsre Damen hinausgefahren, unfern pantomimischen Tanz mit anzu¬
sehen. Da haben wir uns prästirt", und eine ausführliche und sehr anschau¬
liche Schilderung des Vorfalles, auf welche ebenfalls Loeper zuerst aufmerksam
gemacht hat, gibt Sophie La Roche in ihrem Romane "Rosalien's Briefe an
ihre Freundin Mariane Se." (1779). Dort heißt es unter andern:: "Bei den
kühnen Schlittschuhläufern waren die Söhne der angesehensten Familien, junge
Engländer, Officiere -- und einer der seltensten und vortrefflichsten Kopfe
Deutschlands, alle in kurzen Pelzröcken und runden, ihnen recht passenden
Kappenhüten". Nur auf dem Maine hat sich die Szene nicht zugetragen, son¬
dern ans einem überschwemmten und zugefrorenen Wiesenplane in der Nähe
von Frankfurt.

Bettina ist nicht zu bedauern, daß sie ihr Lebenlang mit dem Verdachte
einer eitlen literarischen Fälscherin behaftet gewesen ist; sie hat diesen Verdacht
reichlich verdient. Freilich ist es ihr gegangen nach dem alten, trivialen Sprüchlein,
das wie ein Motto über ihrem "Briefwechsel" stehen könnte: "Wer einmal lügt,
dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht." Wahrheit aber
-- das stellt sich doch immer mehr heraus -- enthält ihr Buch zum weitaus
größten Theile, und die Zeit wird sicher kommen, wo die Goethe-Forschung mit
größerem Vertrauen als bisher davon Gebrauch machen wird. Dieser zuversicht¬
lichen Benutzung wird freilich noch eine mit Hilfe alles jetzt zu Gebote stehenden
kritischen Materials vorzunehmende subtile Chorizontenarbeit vorausgehen müssen,



*) Neuerdings sind auch die enthusiastischen Briefe Bettina's aus Wien über Beethoven
(1810) von Thayer (L. v. Beethoven's Leben, 3. Bd. 1S7S) auf Grund minutiösester Forschung
als echt anerkannt worden.

geschichte gebeten habe, und daß dieses Material eben das im Briefwechsel mit¬
getheilte sei.*)

Die bekannteste Probe ihrer „Pericopen" ist ja die durch Kaulbach's Illu¬
stration populär gewordene Erzählung Goethe's, wie er in dem langen, roth-
scnnmtnen Pelze seiner Mutter auf dem Maine Schlittschuh gefahren sei. Die Ge¬
schichte ist in allen Einzelheiten wahr, und wir wissen fast den Tag, an dein sie sich
zugetragen hat. Etwa vom 22. Januar 1774 ist das Briefchen, worin Goethe Frau
von La Roche, die damals eben das junge Ehepaar Brentano nach Frankfurt
begleitet hatte, zur Eispartie einlädt: „Ich bin im Stande Ihnen ein groses
Schauspiel zu geben, wenn Sie mir den morgenden Nachmittag schenken wollen
. . . Doch ob Sie können; mögte ich gleich wissen und daun soll morgen Nach¬
tische um ein Uhr die Kutsche vor Ihrer Thür stehn. Meine Mutter wird
dabei seyn und wir wollen die Bübgen sBrentano's Kinder^ mit nehmen."
Anfang Februar aber schreibt er an Betty Jacobi: „Vor zehn Tagen ungefähr
waren unsre Damen hinausgefahren, unfern pantomimischen Tanz mit anzu¬
sehen. Da haben wir uns prästirt", und eine ausführliche und sehr anschau¬
liche Schilderung des Vorfalles, auf welche ebenfalls Loeper zuerst aufmerksam
gemacht hat, gibt Sophie La Roche in ihrem Romane „Rosalien's Briefe an
ihre Freundin Mariane Se." (1779). Dort heißt es unter andern:: „Bei den
kühnen Schlittschuhläufern waren die Söhne der angesehensten Familien, junge
Engländer, Officiere — und einer der seltensten und vortrefflichsten Kopfe
Deutschlands, alle in kurzen Pelzröcken und runden, ihnen recht passenden
Kappenhüten". Nur auf dem Maine hat sich die Szene nicht zugetragen, son¬
dern ans einem überschwemmten und zugefrorenen Wiesenplane in der Nähe
von Frankfurt.

Bettina ist nicht zu bedauern, daß sie ihr Lebenlang mit dem Verdachte
einer eitlen literarischen Fälscherin behaftet gewesen ist; sie hat diesen Verdacht
reichlich verdient. Freilich ist es ihr gegangen nach dem alten, trivialen Sprüchlein,
das wie ein Motto über ihrem „Briefwechsel" stehen könnte: „Wer einmal lügt,
dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht." Wahrheit aber
— das stellt sich doch immer mehr heraus — enthält ihr Buch zum weitaus
größten Theile, und die Zeit wird sicher kommen, wo die Goethe-Forschung mit
größerem Vertrauen als bisher davon Gebrauch machen wird. Dieser zuversicht¬
lichen Benutzung wird freilich noch eine mit Hilfe alles jetzt zu Gebote stehenden
kritischen Materials vorzunehmende subtile Chorizontenarbeit vorausgehen müssen,



*) Neuerdings sind auch die enthusiastischen Briefe Bettina's aus Wien über Beethoven
(1810) von Thayer (L. v. Beethoven's Leben, 3. Bd. 1S7S) auf Grund minutiösester Forschung
als echt anerkannt worden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/449>, abgerufen am 26.08.2024.