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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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sein soll. Aber hier haben wir schon das erste Moment zu ihrer Rechtfertigung.
Das letztgenannte Sonett besaß Bettina unzweifelhaft, ebenso gut wie Minna,
in des Dichters Handschrift, beide besaßen es mit der einzig richtigen, zu Bettina's
Zeit nirgends gedruckten Lesart am Schlüsse: "vor deinem Blick, dem flucht'gen"
(anstatt vor einem Blick). Dieselbe Bewandtniß aber hat es mit 1. "Mächtiges
Ueberraschen." Auch dies Sonett hat sie im Briefwechsel keineswegs aus Goethe's
gedruckten Gedichten, sondern, wie abermals die abweichenden Lesarten beweisen,
aus einer in ihrem Besitze befindlichen Goethe'schen Handschrift mitgetheilt. Daß
Goethe ihr also Gedichte schickte, freilich ohne anzudeuten, ob sich dieselben auf
sie oder nicht auf sie bezogen, ist zweifellos, und wenn sie die Eitelkeit besaß,
diese Dichtungen auf sich zu beziehen, so ist das sicher zu begreifen und zu
entschuldigen. Es ist aber auch so gut wie sicher, daß Goethe geradezu Sonette
auf sie gedichtet, und zwar aus ihren Briefen gedichtet hat. Loeper macht zum
ersten Male auf den Schluß des unbestreitbar echten Goethe-Briefes aus dem
Januar 1808 aufmerksam, den sie in den September 1807 gesetzt hat. Dort
heißt es: "Mein artig Kind! schreibe bald, daß ich wieder was zu übersetze"
habe." Was soll der Ausdruck "übersetzen" hier bedeuten? Wilhelm Grimm,
der den Brief kannte, hat bereits 1834 vor der Herausgabe des "Briefwechsels"
das Wort richtig gedeutet, wenn er schreibt: "Mehrere Briefe hat Goethe in
Gedichte übersetzt, wie er selbst scherzhaft sagt." Nun, zu solchen in Sonette
übersetzten Briefen rechnet Loeper vor allem, wie es scheint mit vollem Rechte,
"Sie kann nicht enden". Des zufälligen Anklanges wegen, der sich in der neunten
Zeile findet: "Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!" hat man,
wie schon erwähnt, das Gedicht früher vielfach zu den in die Gruppe Herzlich
gehörigen gezogen, und so faßt auch Strehlke in der Berliner Ausgabe die
Sache noch auf. In dem von Loeper zum ersten Male mitgetheilten Origi¬
nalbriefe Bettina's vom 15. Juni 1807 aber stehen folgende Worte fast ge¬
nau so wie im "Briefwechsel": "Dann fang ich an zu plaudern wie es
meinen Lippen behagt, die Antwort aber die ich mir in Ihrem Namen
gebe, spreche ich mit Bedacht aus: Mein Kind! mein artig gut Mädchen!
liebes Herz! sag ich zu mir und wem: ich das bedeut, daß Sie vielleicht
wirklich es sagen könnten wenn ich so vor Ihnen stände, dann schaudere ich
vor Freude und Sehnsucht zusammen." Leider ist dieser deutliche Zusammen¬
hang Bettinen nicht deutlich genug gewesen, und so hat sie denn die Thorheit
begangen, einen besonderen kleinen (notabene: undatirten!) Brief nachträglich
zu erfinden (Briefwechsel I, S. 190), der nun allerdings, wie Riemer und
Düntzer sehr richtig gesehen haben -- und es ist unbegreiflich, wie Viehvff das
hat leugnen können -- nichts anderes als die prosaische "Ausdröselnng" des
sonettes ist. Ganz dieselbe Bewandtniß aber hat es augenscheinlich mit den


sein soll. Aber hier haben wir schon das erste Moment zu ihrer Rechtfertigung.
Das letztgenannte Sonett besaß Bettina unzweifelhaft, ebenso gut wie Minna,
in des Dichters Handschrift, beide besaßen es mit der einzig richtigen, zu Bettina's
Zeit nirgends gedruckten Lesart am Schlüsse: „vor deinem Blick, dem flucht'gen"
(anstatt vor einem Blick). Dieselbe Bewandtniß aber hat es mit 1. „Mächtiges
Ueberraschen." Auch dies Sonett hat sie im Briefwechsel keineswegs aus Goethe's
gedruckten Gedichten, sondern, wie abermals die abweichenden Lesarten beweisen,
aus einer in ihrem Besitze befindlichen Goethe'schen Handschrift mitgetheilt. Daß
Goethe ihr also Gedichte schickte, freilich ohne anzudeuten, ob sich dieselben auf
sie oder nicht auf sie bezogen, ist zweifellos, und wenn sie die Eitelkeit besaß,
diese Dichtungen auf sich zu beziehen, so ist das sicher zu begreifen und zu
entschuldigen. Es ist aber auch so gut wie sicher, daß Goethe geradezu Sonette
auf sie gedichtet, und zwar aus ihren Briefen gedichtet hat. Loeper macht zum
ersten Male auf den Schluß des unbestreitbar echten Goethe-Briefes aus dem
Januar 1808 aufmerksam, den sie in den September 1807 gesetzt hat. Dort
heißt es: „Mein artig Kind! schreibe bald, daß ich wieder was zu übersetze»
habe." Was soll der Ausdruck „übersetzen" hier bedeuten? Wilhelm Grimm,
der den Brief kannte, hat bereits 1834 vor der Herausgabe des „Briefwechsels"
das Wort richtig gedeutet, wenn er schreibt: „Mehrere Briefe hat Goethe in
Gedichte übersetzt, wie er selbst scherzhaft sagt." Nun, zu solchen in Sonette
übersetzten Briefen rechnet Loeper vor allem, wie es scheint mit vollem Rechte,
„Sie kann nicht enden". Des zufälligen Anklanges wegen, der sich in der neunten
Zeile findet: „Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!" hat man,
wie schon erwähnt, das Gedicht früher vielfach zu den in die Gruppe Herzlich
gehörigen gezogen, und so faßt auch Strehlke in der Berliner Ausgabe die
Sache noch auf. In dem von Loeper zum ersten Male mitgetheilten Origi¬
nalbriefe Bettina's vom 15. Juni 1807 aber stehen folgende Worte fast ge¬
nau so wie im „Briefwechsel": „Dann fang ich an zu plaudern wie es
meinen Lippen behagt, die Antwort aber die ich mir in Ihrem Namen
gebe, spreche ich mit Bedacht aus: Mein Kind! mein artig gut Mädchen!
liebes Herz! sag ich zu mir und wem: ich das bedeut, daß Sie vielleicht
wirklich es sagen könnten wenn ich so vor Ihnen stände, dann schaudere ich
vor Freude und Sehnsucht zusammen." Leider ist dieser deutliche Zusammen¬
hang Bettinen nicht deutlich genug gewesen, und so hat sie denn die Thorheit
begangen, einen besonderen kleinen (notabene: undatirten!) Brief nachträglich
zu erfinden (Briefwechsel I, S. 190), der nun allerdings, wie Riemer und
Düntzer sehr richtig gesehen haben — und es ist unbegreiflich, wie Viehvff das
hat leugnen können — nichts anderes als die prosaische „Ausdröselnng" des
sonettes ist. Ganz dieselbe Bewandtniß aber hat es augenscheinlich mit den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/447>, abgerufen am 26.08.2024.