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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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der "große" Kanzler "aufgehört habe, als allmächtiger Lenker nicht allein von
Europa's, sondern auch von Deutschland's Schicksal dazustehen". "Der Berliner
Vertrag und die drakonischen Gesetze gegen die Sozialisten waren," so bewies
das Blatt seine komische Behauptung, "die letzten hervorragenden Erzeugnisse
seiner äußeren und inneren Politik, und zwar Erzeugnisse solcher Art, die un¬
bedingt eine Reaktion gegen Tendenzen nach sich ziehen mußten, welchen der
Stempel echter Staatsweisheit offenbar mangelt. Der Berliner Kongreß hat
selbst den Blinden gezeigt, wie egoistisch die Politik des deutschen Kanzlers
ist." . . . "Und was die innere betrifft, so muß die Aufregung über deren
despotische Uebergriffe (weiterhin werden die Maßregeln gegen die Rothen als
"schrankenlose polizeiliche Willkür" bezeichnet) einen ganz besonders hohen
Grad erreicht haben, wenn das sonst so bescheidene und dem Willen des Kanzlers
so fügsame deutsche Parlament sämmtliche innere Zwistigkeiten für's Erste bei
Seite wirft und fast einstimmig beschließt, dem Staatsanwalt seine Zustim¬
mung zu gerichtlicher Verfolgung der sozialistischen Abgeordneten Fritzsche und
Hasselmann zu versagen." . . . "Es läßt sich nicht leugnen, daß ein solches
Verhalten des Parlamentes in Bezug auf die Wahrung der Privilegien seiner
Mitglieder von hoher Bedeutung ist." . . . "Der Beschluß vom 19. Februar
gibt der Regierung zu verstehen, daß das Parlament in sämmtlichen Fragen,
welche die Rechte der Volksvertreter berühren sollten, sich wie ein Mann zur
Vertheidigung erheben würde, und daß es mithin völlig nutzlos wäre, an eine
Freiheitsbeschränkung der Parlamentstribüne (die Strafgewalt des Reichstages
ist natürlich gemeint) im gegenwärtigen Augenblicke zu denken. So gewaltig
aber auch der Schlag ist (in der Phantasie des "Golos"), den der Reichstag
den Tendenzen der kaiserlichen Regierung in Bezug auf die Einschränkung des
Unantastbarkeitsrechtes der Abgeordneten versetzt hat, beharrt der Kanzler fest
darauf, feinen Willen durchzusetzen, und will sich Betreffs der Zollreform auf
keinerlei Kompromiß einlassen; im Gegentheil, er beabsichtigt sogar die Ge¬
treide- und Viehsteuer durchzusetzen, koste es, was es wolle." ... "Ein derartiges
Verhältniß zweier Staatsgewalten, der gesetzgebenden und der vollziehenden,
droht zu einer Kollision auszuarten, deren Folge entweder die Auflösung des
soeben einberufenen Parlamentes oder der Rücktritt des Fürsten Bismarck
sein muß."

Endlich brachte der "Golos" in der letzten Woche des Februar eine Aeuße¬
rung, die einen schon oft enthüllten Herzenswunsch der hinter den Koulissen
des Blattes stehenden Persönlichkeiten abermals aussprach. Man las da Fol¬
gendes: "Frankreich's allmählich in Konstantinopel gewonnener Einfluß kann
uns wirkliche Vortheile bieten, wenn die russische Diplomatie ihn nur auszu-
nutzen versteht. Das jetzige Frankreich ist in eine solche Lage versetzt, daß an


der „große" Kanzler „aufgehört habe, als allmächtiger Lenker nicht allein von
Europa's, sondern auch von Deutschland's Schicksal dazustehen". „Der Berliner
Vertrag und die drakonischen Gesetze gegen die Sozialisten waren," so bewies
das Blatt seine komische Behauptung, „die letzten hervorragenden Erzeugnisse
seiner äußeren und inneren Politik, und zwar Erzeugnisse solcher Art, die un¬
bedingt eine Reaktion gegen Tendenzen nach sich ziehen mußten, welchen der
Stempel echter Staatsweisheit offenbar mangelt. Der Berliner Kongreß hat
selbst den Blinden gezeigt, wie egoistisch die Politik des deutschen Kanzlers
ist." . . . „Und was die innere betrifft, so muß die Aufregung über deren
despotische Uebergriffe (weiterhin werden die Maßregeln gegen die Rothen als
„schrankenlose polizeiliche Willkür" bezeichnet) einen ganz besonders hohen
Grad erreicht haben, wenn das sonst so bescheidene und dem Willen des Kanzlers
so fügsame deutsche Parlament sämmtliche innere Zwistigkeiten für's Erste bei
Seite wirft und fast einstimmig beschließt, dem Staatsanwalt seine Zustim¬
mung zu gerichtlicher Verfolgung der sozialistischen Abgeordneten Fritzsche und
Hasselmann zu versagen." . . . „Es läßt sich nicht leugnen, daß ein solches
Verhalten des Parlamentes in Bezug auf die Wahrung der Privilegien seiner
Mitglieder von hoher Bedeutung ist." . . . „Der Beschluß vom 19. Februar
gibt der Regierung zu verstehen, daß das Parlament in sämmtlichen Fragen,
welche die Rechte der Volksvertreter berühren sollten, sich wie ein Mann zur
Vertheidigung erheben würde, und daß es mithin völlig nutzlos wäre, an eine
Freiheitsbeschränkung der Parlamentstribüne (die Strafgewalt des Reichstages
ist natürlich gemeint) im gegenwärtigen Augenblicke zu denken. So gewaltig
aber auch der Schlag ist (in der Phantasie des „Golos"), den der Reichstag
den Tendenzen der kaiserlichen Regierung in Bezug auf die Einschränkung des
Unantastbarkeitsrechtes der Abgeordneten versetzt hat, beharrt der Kanzler fest
darauf, feinen Willen durchzusetzen, und will sich Betreffs der Zollreform auf
keinerlei Kompromiß einlassen; im Gegentheil, er beabsichtigt sogar die Ge¬
treide- und Viehsteuer durchzusetzen, koste es, was es wolle." ... „Ein derartiges
Verhältniß zweier Staatsgewalten, der gesetzgebenden und der vollziehenden,
droht zu einer Kollision auszuarten, deren Folge entweder die Auflösung des
soeben einberufenen Parlamentes oder der Rücktritt des Fürsten Bismarck
sein muß."

Endlich brachte der „Golos" in der letzten Woche des Februar eine Aeuße¬
rung, die einen schon oft enthüllten Herzenswunsch der hinter den Koulissen
des Blattes stehenden Persönlichkeiten abermals aussprach. Man las da Fol¬
gendes: „Frankreich's allmählich in Konstantinopel gewonnener Einfluß kann
uns wirkliche Vortheile bieten, wenn die russische Diplomatie ihn nur auszu-
nutzen versteht. Das jetzige Frankreich ist in eine solche Lage versetzt, daß an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/423>, abgerufen am 24.07.2024.