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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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zusammen. Strauß war ein unruhiger, leidenschaftlicher, nie befriedigter Geist.
So konnte er selbstverständlich als Schriftsteller nicht das Urbild kalter Kon¬
sequenz und unbestochenen Wahrheitssinnes sein. Aus der Mystik der roman¬
tischen Schule springt er zum Rationalismus der Hegel'schen über. Ueber die
selbstmörderische Wirkung seines Lebens Jesu belehrt, macht er Konzessionen.
Als die Hoffnung auf eine Lehrthätigkeit dennoch scheitert, arbeitet er im Zorne
die Hegel'sche Rekonstruktion der Glaubenslehre zu einer Auflösung derselben
um. Dennoch platirt er nach dem Siege des Liberalismus für eine liberale
Kirche und betheiligt sich später an den Versuchen, ein positives Bild des Lebens
Jesu zu gewinnen. Aber vom Erfolge persönlich enttäuscht, gießt er alsbald
Schalen voll Spott auf den theologischen Liberalismus aus und verhöhnt die von
ihm eben mitgemachten historischen Versuche als Humbug. Zuletzt springt er im
Aerger über die Theologen von der idealistischen Tradition seines ganzen Lebens
ab und beschließt eine vierzigjährige idealistische Laufbahn mit dem jähen
Uebergange zum Materialismus. Die Entwickelung von Strauß ist also mit
Nichten, wie behauptet worden, folgerichtig wie ein dialektischer Prozeß vor
sich gegangen, und seine radikalsten Auslassungen sind durch äußere Verhält¬
nisse mitbedingt worden und großentheils Verstimmungsprodukte gewesen.
Zwei Vorzüge aber werden ihm immer bleiben: er hat nach Goethe den besten
deutschen Stil geschrieben, und seine Biographieen sind wahre Kabinetsstücke
unserer historischen Literatur. Er war kein spekulativer Kopf, aber ein scharf
urtheilender Verstand; wir erkennen in ihm einen großen Kritiker, aber keinen
schöpferischen Denker, und weil er vor dem zusammengerafften Versuch seiner
letzten Lebensjahre niemals zu einer einheitlichen Weltanschauung gekommen
ist, hat er zu verschiedenen Zeiten, je nach dem Ausgangspunkte der Betrachtung,
auf dieselben Fragen die verschiedensten Antworten gegeben. Dagegen wird
er als Geschichtschreiber stets mit Ehren genannt werden. Daß er mit der
ihm eigenen Kenntniß der Quellen die populärste Darstellung verband, war
ein großes Verdienst in einer Zeit, in der die Fachgelehrsamkeit in Klein-
meisterei verkommt und sich zur Verwerthung ihrer Forschungen für die
Nation für zu gut hält. Aber wenn er auch als Größe der Wissenschaft zu
gelten beansprucht, so wird er sich immer nur auf sein erstes Buch berufen
können; denn nur dieses hat der Entwickelung eine alte Bahn verlegt und sie
auf neue Wege gedrängt. Das Verhängnisvolle war dabei nur, daß er mit
der christlichen Religion brach, was die andern, die seine Arbeiten weiter ge¬
führt haben, nicht thaten. Es fehlte ihm an religiöser Empfindung, es fehlte
ihm auch jede wärmere Antheilnahme an den Schicksalen der Menschen, und
so war es ihm gleichgiltig, was die Leute mit den Ergebnissen seiner Kritik
praktisch anfingen. So erklärt es sich, daß sein Wirken nur der Reaktion zu Gute
gekommen ist.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Hnthel 6- Herrmann in Leipzig.

zusammen. Strauß war ein unruhiger, leidenschaftlicher, nie befriedigter Geist.
So konnte er selbstverständlich als Schriftsteller nicht das Urbild kalter Kon¬
sequenz und unbestochenen Wahrheitssinnes sein. Aus der Mystik der roman¬
tischen Schule springt er zum Rationalismus der Hegel'schen über. Ueber die
selbstmörderische Wirkung seines Lebens Jesu belehrt, macht er Konzessionen.
Als die Hoffnung auf eine Lehrthätigkeit dennoch scheitert, arbeitet er im Zorne
die Hegel'sche Rekonstruktion der Glaubenslehre zu einer Auflösung derselben
um. Dennoch platirt er nach dem Siege des Liberalismus für eine liberale
Kirche und betheiligt sich später an den Versuchen, ein positives Bild des Lebens
Jesu zu gewinnen. Aber vom Erfolge persönlich enttäuscht, gießt er alsbald
Schalen voll Spott auf den theologischen Liberalismus aus und verhöhnt die von
ihm eben mitgemachten historischen Versuche als Humbug. Zuletzt springt er im
Aerger über die Theologen von der idealistischen Tradition seines ganzen Lebens
ab und beschließt eine vierzigjährige idealistische Laufbahn mit dem jähen
Uebergange zum Materialismus. Die Entwickelung von Strauß ist also mit
Nichten, wie behauptet worden, folgerichtig wie ein dialektischer Prozeß vor
sich gegangen, und seine radikalsten Auslassungen sind durch äußere Verhält¬
nisse mitbedingt worden und großentheils Verstimmungsprodukte gewesen.
Zwei Vorzüge aber werden ihm immer bleiben: er hat nach Goethe den besten
deutschen Stil geschrieben, und seine Biographieen sind wahre Kabinetsstücke
unserer historischen Literatur. Er war kein spekulativer Kopf, aber ein scharf
urtheilender Verstand; wir erkennen in ihm einen großen Kritiker, aber keinen
schöpferischen Denker, und weil er vor dem zusammengerafften Versuch seiner
letzten Lebensjahre niemals zu einer einheitlichen Weltanschauung gekommen
ist, hat er zu verschiedenen Zeiten, je nach dem Ausgangspunkte der Betrachtung,
auf dieselben Fragen die verschiedensten Antworten gegeben. Dagegen wird
er als Geschichtschreiber stets mit Ehren genannt werden. Daß er mit der
ihm eigenen Kenntniß der Quellen die populärste Darstellung verband, war
ein großes Verdienst in einer Zeit, in der die Fachgelehrsamkeit in Klein-
meisterei verkommt und sich zur Verwerthung ihrer Forschungen für die
Nation für zu gut hält. Aber wenn er auch als Größe der Wissenschaft zu
gelten beansprucht, so wird er sich immer nur auf sein erstes Buch berufen
können; denn nur dieses hat der Entwickelung eine alte Bahn verlegt und sie
auf neue Wege gedrängt. Das Verhängnisvolle war dabei nur, daß er mit
der christlichen Religion brach, was die andern, die seine Arbeiten weiter ge¬
führt haben, nicht thaten. Es fehlte ihm an religiöser Empfindung, es fehlte
ihm auch jede wärmere Antheilnahme an den Schicksalen der Menschen, und
so war es ihm gleichgiltig, was die Leute mit den Ergebnissen seiner Kritik
praktisch anfingen. So erklärt es sich, daß sein Wirken nur der Reaktion zu Gute
gekommen ist.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hnthel 6- Herrmann in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/420>, abgerufen am 25.08.2024.