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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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der Sylvesternacht zwischen zwölf und ein Uhr ans einen Kreuzweg stellt,
der sieht den Himmel offen und erschaut da die Ereignisse des kommenden
Jahres. Ziemlich allgemein wird von der Rockenphilosophie angenommen,
daß eine klare, regen- und windlose Nacht vor dem Neujahrstage ein gutes
Jahr verkündige. Gibt es Wind, so ist er, wenn er von Morgen herkommt,
dem Vieh schädlich, kommt er von Abend her, so bedeutet er den Fürsten,
kommt er von Mittag, so bringt er dem Volke Sterben, wogegen Nordwind
Fruchtbarkeit bedeutet. Durch den ganzen Norden Dentschland's geht die
Meinung, daß in dieser Grenz- und Scheidenacht die Pferde und Rinder in
den Ställen einander die Zukunft mittheilen. Glimme das Feuer, das am
Vorabend des neuen Jahres angemacht worden ist, bei Tagesanbruch noch, so
ist das ein gutes Vorzeichen für das Haus. Jeder Sylvesternachtstraum erfüllt
sich. Wem am Neujahrsmorgen ein frischer Bube oder ein sauberes Mädel
begegnet, der hat Glück zu erwarten, wer aber auf ein altes Weib stoßt, dem
steht ein Unglück bevor, behaupten die Leute in tyroler Gegenden. Im Kanton
Appenzell heißt es: wenn man am Neujahrstage zuerst Weibervolk zu Gesicht
bekommt, so hat man das ganze Jahr hindurch kein Glück, und wenn man
an ihm die "Spinumogga" (Spinnmücken, Spinnen) viel weben sieht, so wird
es mit dem Gewerbe besser; machen sie aber nur lange Fäden, so schlägt das
Garn auf.

An diese weissagenden Eigenschaften und die wund erwirkende Kraft der
heiligen Zeit knüpft sich eine große Anzahl vou Vorschriften in Betreff dessen,
was in ihr zu thun und zu lassen ist, wenn man die Zukunft erfahren oder
sich günstig gestalten will. Eine Menge von Bräuchen, die in das Gebiet des
Zauberns stillen, werden von den Altgläubigen in ihr vorgenommen. In der
Sylvesternacht muß nach dem Glauben des Volkes in Schwaben und Tyrol
aller Flachs vom Rocken abgesponnen sein, sonst wird man nie ganz abspinnen,
oder sonst geräth die Leinsaat im nächsten Jahre nicht. In Schwaben schlagen
alte Frauen in dieser Nacht im Dunkeln das Gesangbuch auf und lesen am
Morgen die aufgeschlagene Stelle. Ist es ein Sterbelied, so wissen sie, daß
sie binnen zwölf Monaten ans dem Leben scheiden werden. Auch junge Leute
befragen bei wichtigen Anlässen dieses Orakel der Nacht vor Neujahr. Sie schlagen
im Finstern, während sie im Bette liegen, dreimal das Gesangbuch auf, macheu
jedesmal ein Eselsohr und lesen am nächsten Morgen, was auf der rechten
Seite steht, um sich danach bei schwankender Stimmung und Neigung zu ent¬
scheiden, was namentlich von Mädchen geschieht, die sich in Betreff eines
Heirathsautrags zu entschließen haben. Wenn Mädchen in der Neujahrsnacht
Schlag zwölf Uhr geschmolzenes Blei durch einen Schlüsselbart in kaltes


der Sylvesternacht zwischen zwölf und ein Uhr ans einen Kreuzweg stellt,
der sieht den Himmel offen und erschaut da die Ereignisse des kommenden
Jahres. Ziemlich allgemein wird von der Rockenphilosophie angenommen,
daß eine klare, regen- und windlose Nacht vor dem Neujahrstage ein gutes
Jahr verkündige. Gibt es Wind, so ist er, wenn er von Morgen herkommt,
dem Vieh schädlich, kommt er von Abend her, so bedeutet er den Fürsten,
kommt er von Mittag, so bringt er dem Volke Sterben, wogegen Nordwind
Fruchtbarkeit bedeutet. Durch den ganzen Norden Dentschland's geht die
Meinung, daß in dieser Grenz- und Scheidenacht die Pferde und Rinder in
den Ställen einander die Zukunft mittheilen. Glimme das Feuer, das am
Vorabend des neuen Jahres angemacht worden ist, bei Tagesanbruch noch, so
ist das ein gutes Vorzeichen für das Haus. Jeder Sylvesternachtstraum erfüllt
sich. Wem am Neujahrsmorgen ein frischer Bube oder ein sauberes Mädel
begegnet, der hat Glück zu erwarten, wer aber auf ein altes Weib stoßt, dem
steht ein Unglück bevor, behaupten die Leute in tyroler Gegenden. Im Kanton
Appenzell heißt es: wenn man am Neujahrstage zuerst Weibervolk zu Gesicht
bekommt, so hat man das ganze Jahr hindurch kein Glück, und wenn man
an ihm die „Spinumogga" (Spinnmücken, Spinnen) viel weben sieht, so wird
es mit dem Gewerbe besser; machen sie aber nur lange Fäden, so schlägt das
Garn auf.

An diese weissagenden Eigenschaften und die wund erwirkende Kraft der
heiligen Zeit knüpft sich eine große Anzahl vou Vorschriften in Betreff dessen,
was in ihr zu thun und zu lassen ist, wenn man die Zukunft erfahren oder
sich günstig gestalten will. Eine Menge von Bräuchen, die in das Gebiet des
Zauberns stillen, werden von den Altgläubigen in ihr vorgenommen. In der
Sylvesternacht muß nach dem Glauben des Volkes in Schwaben und Tyrol
aller Flachs vom Rocken abgesponnen sein, sonst wird man nie ganz abspinnen,
oder sonst geräth die Leinsaat im nächsten Jahre nicht. In Schwaben schlagen
alte Frauen in dieser Nacht im Dunkeln das Gesangbuch auf und lesen am
Morgen die aufgeschlagene Stelle. Ist es ein Sterbelied, so wissen sie, daß
sie binnen zwölf Monaten ans dem Leben scheiden werden. Auch junge Leute
befragen bei wichtigen Anlässen dieses Orakel der Nacht vor Neujahr. Sie schlagen
im Finstern, während sie im Bette liegen, dreimal das Gesangbuch auf, macheu
jedesmal ein Eselsohr und lesen am nächsten Morgen, was auf der rechten
Seite steht, um sich danach bei schwankender Stimmung und Neigung zu ent¬
scheiden, was namentlich von Mädchen geschieht, die sich in Betreff eines
Heirathsautrags zu entschließen haben. Wenn Mädchen in der Neujahrsnacht
Schlag zwölf Uhr geschmolzenes Blei durch einen Schlüsselbart in kaltes


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[0039] der Sylvesternacht zwischen zwölf und ein Uhr ans einen Kreuzweg stellt, der sieht den Himmel offen und erschaut da die Ereignisse des kommenden Jahres. Ziemlich allgemein wird von der Rockenphilosophie angenommen, daß eine klare, regen- und windlose Nacht vor dem Neujahrstage ein gutes Jahr verkündige. Gibt es Wind, so ist er, wenn er von Morgen herkommt, dem Vieh schädlich, kommt er von Abend her, so bedeutet er den Fürsten, kommt er von Mittag, so bringt er dem Volke Sterben, wogegen Nordwind Fruchtbarkeit bedeutet. Durch den ganzen Norden Dentschland's geht die Meinung, daß in dieser Grenz- und Scheidenacht die Pferde und Rinder in den Ställen einander die Zukunft mittheilen. Glimme das Feuer, das am Vorabend des neuen Jahres angemacht worden ist, bei Tagesanbruch noch, so ist das ein gutes Vorzeichen für das Haus. Jeder Sylvesternachtstraum erfüllt sich. Wem am Neujahrsmorgen ein frischer Bube oder ein sauberes Mädel begegnet, der hat Glück zu erwarten, wer aber auf ein altes Weib stoßt, dem steht ein Unglück bevor, behaupten die Leute in tyroler Gegenden. Im Kanton Appenzell heißt es: wenn man am Neujahrstage zuerst Weibervolk zu Gesicht bekommt, so hat man das ganze Jahr hindurch kein Glück, und wenn man an ihm die „Spinumogga" (Spinnmücken, Spinnen) viel weben sieht, so wird es mit dem Gewerbe besser; machen sie aber nur lange Fäden, so schlägt das Garn auf. An diese weissagenden Eigenschaften und die wund erwirkende Kraft der heiligen Zeit knüpft sich eine große Anzahl vou Vorschriften in Betreff dessen, was in ihr zu thun und zu lassen ist, wenn man die Zukunft erfahren oder sich günstig gestalten will. Eine Menge von Bräuchen, die in das Gebiet des Zauberns stillen, werden von den Altgläubigen in ihr vorgenommen. In der Sylvesternacht muß nach dem Glauben des Volkes in Schwaben und Tyrol aller Flachs vom Rocken abgesponnen sein, sonst wird man nie ganz abspinnen, oder sonst geräth die Leinsaat im nächsten Jahre nicht. In Schwaben schlagen alte Frauen in dieser Nacht im Dunkeln das Gesangbuch auf und lesen am Morgen die aufgeschlagene Stelle. Ist es ein Sterbelied, so wissen sie, daß sie binnen zwölf Monaten ans dem Leben scheiden werden. Auch junge Leute befragen bei wichtigen Anlässen dieses Orakel der Nacht vor Neujahr. Sie schlagen im Finstern, während sie im Bette liegen, dreimal das Gesangbuch auf, macheu jedesmal ein Eselsohr und lesen am nächsten Morgen, was auf der rechten Seite steht, um sich danach bei schwankender Stimmung und Neigung zu ent¬ scheiden, was namentlich von Mädchen geschieht, die sich in Betreff eines Heirathsautrags zu entschließen haben. Wenn Mädchen in der Neujahrsnacht Schlag zwölf Uhr geschmolzenes Blei durch einen Schlüsselbart in kaltes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/39>, abgerufen am 26.08.2024.