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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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eine Gnadengabe -- Charisma -- zu Theil geworden war, die zur Erbauung
der Gemeinde im Gottesdienste sich eignete, der durfte sie äußern. Dem Amte
fiel es nur zu, die Aufeinanderfolge der Redenden zu bestimmen und für die
Ordnung der Feier zu sorgen; eine Aufgabe, der bei der allgemeinen und ge¬
steigerten Erregung der Gemüther zu genügen, mitunter recht schwer fiel. Er¬
wägen wir endlich, daß dies Amt nicht von einem Einzelnen, sondern von
einer Mehrheit ausgeübt wurde, nicht monarchisch, sondern oligarchisch gestaltet
war, so sehen wir leicht, wie die Bedingungen für eine kräftige, einflußreiche
Thätigkeit des Amtes fehlten. Die Folgen dieser dürftigen Entwickelung des¬
selben blieben nicht aus. Spaltungen und Unordnung schlichen sich in die
Gemeinden, und je reicher sich die Geistesgaben entfalteten, je mehr das Glau¬
bensleben individuelle Gestalt annahm, desto größer wurde auch die Gefahr,
daß durch Ausschreitungen die Nüchternheit und Besonnenheit gehemmt, durch
unbeschränkte Ausbildung der eigenthümlichen Auffassung des Evangeliums die
Einheit des Ganzen gestört werde. Nur durch Erweiterung der Befugnisse
des Amtes konnte diese Gefahr abgewandt werden. Und eine solche sehen wir
denn in der zweiten Hälfte des apostolischen Zeitalters sich vollziehen.

Es war das Vorbild der Synagoge, das für diesen Fortschritt der Ver¬
fassung maßgebend wurde. Denn wenn im synagogalen Gottesdienste das
Recht zu erbaulicher Ansprache, zur Schriftauslegung, auch nicht ausschließlich
in der Hand des Vorstehers lag, sondern, wer dazu für befähigt gehalten
wurde, das Wort ergreifen konnte, so stand es doch den Vorstehern in erster
Linie zu, die Lehrthätigkeit auszuüben, und ihrer Erlaubniß bedürfte jeder, der
zur Gemeinde reden wollte. Wie denn auch bei der Wahl des Synagogen¬
vorstehers darauf vor allem gesehen wurde, daß er die Gabe der Lehre besaß.

Es leuchtet ein, wie folgenschwer die Aneignung der synagogalen Institu¬
tion für die Organisation der christlichen Gemeinden werden mußte. Sie be¬
deutete eine Verlegung des Schwerpunktes, eine Beschränkung der den einzelnen
Gemeindegliedern zustehenden Gewalt zu Gunsten einer Machtsteigerung des
Amtes. Ja auch die Wendung zu einer mehr monarchischen Gestaltung der
Verfassung war damit gegeben, insofern in dem Kollegium der Synagogenvor¬
steher doch einer die Präsidialgewalt ausübte.

Es ist begreiflich, daß diese Umwandlung der Verfassung langsam und
allmählich sich vollzog, da es theils vielfach an Persönlichkeiten fehlte, denen
eine so hervorragende Lehrgabe eigen war, daß die übrigen Gemeindeglieder
willig die Bethätigung ihrer eigenen Befähigung ihnen gegenüber zu beschränken
geneigt sein konnten, theils die bis in die tiefsten Wurzeln dringende Erschüt¬
terung des Gemüthslebens einer zu gemäßigteren Tempo veranlassenden Ent¬
wickelung sich entgegenstellen mußte. Es ist ebenso begreiflich, daß diese Um-


eine Gnadengabe — Charisma — zu Theil geworden war, die zur Erbauung
der Gemeinde im Gottesdienste sich eignete, der durfte sie äußern. Dem Amte
fiel es nur zu, die Aufeinanderfolge der Redenden zu bestimmen und für die
Ordnung der Feier zu sorgen; eine Aufgabe, der bei der allgemeinen und ge¬
steigerten Erregung der Gemüther zu genügen, mitunter recht schwer fiel. Er¬
wägen wir endlich, daß dies Amt nicht von einem Einzelnen, sondern von
einer Mehrheit ausgeübt wurde, nicht monarchisch, sondern oligarchisch gestaltet
war, so sehen wir leicht, wie die Bedingungen für eine kräftige, einflußreiche
Thätigkeit des Amtes fehlten. Die Folgen dieser dürftigen Entwickelung des¬
selben blieben nicht aus. Spaltungen und Unordnung schlichen sich in die
Gemeinden, und je reicher sich die Geistesgaben entfalteten, je mehr das Glau¬
bensleben individuelle Gestalt annahm, desto größer wurde auch die Gefahr,
daß durch Ausschreitungen die Nüchternheit und Besonnenheit gehemmt, durch
unbeschränkte Ausbildung der eigenthümlichen Auffassung des Evangeliums die
Einheit des Ganzen gestört werde. Nur durch Erweiterung der Befugnisse
des Amtes konnte diese Gefahr abgewandt werden. Und eine solche sehen wir
denn in der zweiten Hälfte des apostolischen Zeitalters sich vollziehen.

Es war das Vorbild der Synagoge, das für diesen Fortschritt der Ver¬
fassung maßgebend wurde. Denn wenn im synagogalen Gottesdienste das
Recht zu erbaulicher Ansprache, zur Schriftauslegung, auch nicht ausschließlich
in der Hand des Vorstehers lag, sondern, wer dazu für befähigt gehalten
wurde, das Wort ergreifen konnte, so stand es doch den Vorstehern in erster
Linie zu, die Lehrthätigkeit auszuüben, und ihrer Erlaubniß bedürfte jeder, der
zur Gemeinde reden wollte. Wie denn auch bei der Wahl des Synagogen¬
vorstehers darauf vor allem gesehen wurde, daß er die Gabe der Lehre besaß.

Es leuchtet ein, wie folgenschwer die Aneignung der synagogalen Institu¬
tion für die Organisation der christlichen Gemeinden werden mußte. Sie be¬
deutete eine Verlegung des Schwerpunktes, eine Beschränkung der den einzelnen
Gemeindegliedern zustehenden Gewalt zu Gunsten einer Machtsteigerung des
Amtes. Ja auch die Wendung zu einer mehr monarchischen Gestaltung der
Verfassung war damit gegeben, insofern in dem Kollegium der Synagogenvor¬
steher doch einer die Präsidialgewalt ausübte.

Es ist begreiflich, daß diese Umwandlung der Verfassung langsam und
allmählich sich vollzog, da es theils vielfach an Persönlichkeiten fehlte, denen
eine so hervorragende Lehrgabe eigen war, daß die übrigen Gemeindeglieder
willig die Bethätigung ihrer eigenen Befähigung ihnen gegenüber zu beschränken
geneigt sein konnten, theils die bis in die tiefsten Wurzeln dringende Erschüt¬
terung des Gemüthslebens einer zu gemäßigteren Tempo veranlassenden Ent¬
wickelung sich entgegenstellen mußte. Es ist ebenso begreiflich, daß diese Um-


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[0388] eine Gnadengabe — Charisma — zu Theil geworden war, die zur Erbauung der Gemeinde im Gottesdienste sich eignete, der durfte sie äußern. Dem Amte fiel es nur zu, die Aufeinanderfolge der Redenden zu bestimmen und für die Ordnung der Feier zu sorgen; eine Aufgabe, der bei der allgemeinen und ge¬ steigerten Erregung der Gemüther zu genügen, mitunter recht schwer fiel. Er¬ wägen wir endlich, daß dies Amt nicht von einem Einzelnen, sondern von einer Mehrheit ausgeübt wurde, nicht monarchisch, sondern oligarchisch gestaltet war, so sehen wir leicht, wie die Bedingungen für eine kräftige, einflußreiche Thätigkeit des Amtes fehlten. Die Folgen dieser dürftigen Entwickelung des¬ selben blieben nicht aus. Spaltungen und Unordnung schlichen sich in die Gemeinden, und je reicher sich die Geistesgaben entfalteten, je mehr das Glau¬ bensleben individuelle Gestalt annahm, desto größer wurde auch die Gefahr, daß durch Ausschreitungen die Nüchternheit und Besonnenheit gehemmt, durch unbeschränkte Ausbildung der eigenthümlichen Auffassung des Evangeliums die Einheit des Ganzen gestört werde. Nur durch Erweiterung der Befugnisse des Amtes konnte diese Gefahr abgewandt werden. Und eine solche sehen wir denn in der zweiten Hälfte des apostolischen Zeitalters sich vollziehen. Es war das Vorbild der Synagoge, das für diesen Fortschritt der Ver¬ fassung maßgebend wurde. Denn wenn im synagogalen Gottesdienste das Recht zu erbaulicher Ansprache, zur Schriftauslegung, auch nicht ausschließlich in der Hand des Vorstehers lag, sondern, wer dazu für befähigt gehalten wurde, das Wort ergreifen konnte, so stand es doch den Vorstehern in erster Linie zu, die Lehrthätigkeit auszuüben, und ihrer Erlaubniß bedürfte jeder, der zur Gemeinde reden wollte. Wie denn auch bei der Wahl des Synagogen¬ vorstehers darauf vor allem gesehen wurde, daß er die Gabe der Lehre besaß. Es leuchtet ein, wie folgenschwer die Aneignung der synagogalen Institu¬ tion für die Organisation der christlichen Gemeinden werden mußte. Sie be¬ deutete eine Verlegung des Schwerpunktes, eine Beschränkung der den einzelnen Gemeindegliedern zustehenden Gewalt zu Gunsten einer Machtsteigerung des Amtes. Ja auch die Wendung zu einer mehr monarchischen Gestaltung der Verfassung war damit gegeben, insofern in dem Kollegium der Synagogenvor¬ steher doch einer die Präsidialgewalt ausübte. Es ist begreiflich, daß diese Umwandlung der Verfassung langsam und allmählich sich vollzog, da es theils vielfach an Persönlichkeiten fehlte, denen eine so hervorragende Lehrgabe eigen war, daß die übrigen Gemeindeglieder willig die Bethätigung ihrer eigenen Befähigung ihnen gegenüber zu beschränken geneigt sein konnten, theils die bis in die tiefsten Wurzeln dringende Erschüt¬ terung des Gemüthslebens einer zu gemäßigteren Tempo veranlassenden Ent¬ wickelung sich entgegenstellen mußte. Es ist ebenso begreiflich, daß diese Um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/388>, abgerufen am 23.07.2024.