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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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dem Ministerium die Hartnäckigkeit der Radikalen in der dritten Frage des
Tages. Die äußerste Linke besteht daraus, daß das Ministerium vom 16. Mai,
das "Staatsstreich-Kabinet" des Marschalls Mac Mahon, in Anklagestand ver¬
setzt werde. Waddington hat in Folge dessen sich zu der Erklärung genöthigt
gesehen, das Ministerium werde, wenn dieses Verlangen die Mehrheit finde, zurück¬
treten, und mit ziemlicher Bestimmtheit steht zu erwarten, daß das Ministerium
in dieser Angelegenheit siegen wird. Wahrscheinlich aber wird dies nur in
Folge der Unterstützung möglich sein, welche die Parteien der Rechten der
Regierung und den gemäßigten Republikanern nothgedrungen leisten werden,
um ihre Freunde Broglie, Fourtou u. s. w. vor gerichtlicher Verfolgung zu
sichern, und so könnte dieser Sieg Waddington's der Vorbote einer baldigen
Niederlage sein.

Verständig und politisch wird die Forderung der Radikalen dadurch freilich
nicht. Die Politik kennt keine Gefühle, also auch die Rachsucht nicht. Politisch
handeln heißt zweckvoll handeln. Die Versetzung der Minister vom 16. Mai in den
Anklagestand kann keinen wirklichen Zweck haben. Sie ist eine politische Ungeschick¬
lichkeit und juristisch nicht ausführbar. Mac Mahon ist nicht mehr das Oberhaupt
der vollziehenden Gewalt, und es wird schwerlich jemand beabsichtigen, ihn
aufzusuchen und vor das Forum der Gerichte zu ziehen. Der Hauptverant¬
wortliche würde also dem Prozesse fehlen. Sagt man uns, der Präsident sei
unverantwortlich, so ist das eine Fiktion, die sich auf dem Papier gut aus¬
nimmt, von der Geschichte aber nicht beachtet zu werden pflegt. Karl X. war
nach der Charte auch unverantwortlich, und seine Minister hätten also allein
bestraft werden müssen. Dies geschah, aber auch der König mußte in die Ver¬
bannung gehen. Ludwig Philipp war verfassungsmäßig ebenfalls unverant¬
wortlich, aber auch ihn traf für das, was dem Volke an ihm nicht gefiel, die
Strafe des Exils. Hat es aber nun jemals einen politischen Akt gegeben, den
man mit vollem Rechte einen persönlichen nennen darf, so war es das Mani¬
fest des Marschall-Präsidenten vom 16. Mai, welches der Bildung des Staats¬
streich - Kabinets vorausging. Es war im allereigentlichsten Sinne das Her¬
vortreten einer persönlichen, von allen andern staatlichen Gewalten unabhängigen
Negierung. Gleichzeitig aber war anzuerkennen, daß dieser gewaltsame Akt
°n sich weder gegen die Verfassung noch gegen die Gesetzlichkeit verstieß.
Der 16. Mai war ein moralischer Staatsstreich, gerade wegen dieser Eigen¬
schaft aber ist er gesetzlich unfaßbar. In den Grenzen der Verfassung wurde
die Verantwortlichkeit für denselben vom französischen Senate getheilt, welcher
die Auflösung der eben erst gewählten Deputirtenkammer bewilligte. Will man
auch diese alte Majorität des Senats vor die Gerichte ziehen? Minister haben
sich zu Werkzeugen einer Verschwörung gegen die Republik hergegeben. Sie


dem Ministerium die Hartnäckigkeit der Radikalen in der dritten Frage des
Tages. Die äußerste Linke besteht daraus, daß das Ministerium vom 16. Mai,
das „Staatsstreich-Kabinet" des Marschalls Mac Mahon, in Anklagestand ver¬
setzt werde. Waddington hat in Folge dessen sich zu der Erklärung genöthigt
gesehen, das Ministerium werde, wenn dieses Verlangen die Mehrheit finde, zurück¬
treten, und mit ziemlicher Bestimmtheit steht zu erwarten, daß das Ministerium
in dieser Angelegenheit siegen wird. Wahrscheinlich aber wird dies nur in
Folge der Unterstützung möglich sein, welche die Parteien der Rechten der
Regierung und den gemäßigten Republikanern nothgedrungen leisten werden,
um ihre Freunde Broglie, Fourtou u. s. w. vor gerichtlicher Verfolgung zu
sichern, und so könnte dieser Sieg Waddington's der Vorbote einer baldigen
Niederlage sein.

Verständig und politisch wird die Forderung der Radikalen dadurch freilich
nicht. Die Politik kennt keine Gefühle, also auch die Rachsucht nicht. Politisch
handeln heißt zweckvoll handeln. Die Versetzung der Minister vom 16. Mai in den
Anklagestand kann keinen wirklichen Zweck haben. Sie ist eine politische Ungeschick¬
lichkeit und juristisch nicht ausführbar. Mac Mahon ist nicht mehr das Oberhaupt
der vollziehenden Gewalt, und es wird schwerlich jemand beabsichtigen, ihn
aufzusuchen und vor das Forum der Gerichte zu ziehen. Der Hauptverant¬
wortliche würde also dem Prozesse fehlen. Sagt man uns, der Präsident sei
unverantwortlich, so ist das eine Fiktion, die sich auf dem Papier gut aus¬
nimmt, von der Geschichte aber nicht beachtet zu werden pflegt. Karl X. war
nach der Charte auch unverantwortlich, und seine Minister hätten also allein
bestraft werden müssen. Dies geschah, aber auch der König mußte in die Ver¬
bannung gehen. Ludwig Philipp war verfassungsmäßig ebenfalls unverant¬
wortlich, aber auch ihn traf für das, was dem Volke an ihm nicht gefiel, die
Strafe des Exils. Hat es aber nun jemals einen politischen Akt gegeben, den
man mit vollem Rechte einen persönlichen nennen darf, so war es das Mani¬
fest des Marschall-Präsidenten vom 16. Mai, welches der Bildung des Staats¬
streich - Kabinets vorausging. Es war im allereigentlichsten Sinne das Her¬
vortreten einer persönlichen, von allen andern staatlichen Gewalten unabhängigen
Negierung. Gleichzeitig aber war anzuerkennen, daß dieser gewaltsame Akt
°n sich weder gegen die Verfassung noch gegen die Gesetzlichkeit verstieß.
Der 16. Mai war ein moralischer Staatsstreich, gerade wegen dieser Eigen¬
schaft aber ist er gesetzlich unfaßbar. In den Grenzen der Verfassung wurde
die Verantwortlichkeit für denselben vom französischen Senate getheilt, welcher
die Auflösung der eben erst gewählten Deputirtenkammer bewilligte. Will man
auch diese alte Majorität des Senats vor die Gerichte ziehen? Minister haben
sich zu Werkzeugen einer Verschwörung gegen die Republik hergegeben. Sie


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[0337] dem Ministerium die Hartnäckigkeit der Radikalen in der dritten Frage des Tages. Die äußerste Linke besteht daraus, daß das Ministerium vom 16. Mai, das „Staatsstreich-Kabinet" des Marschalls Mac Mahon, in Anklagestand ver¬ setzt werde. Waddington hat in Folge dessen sich zu der Erklärung genöthigt gesehen, das Ministerium werde, wenn dieses Verlangen die Mehrheit finde, zurück¬ treten, und mit ziemlicher Bestimmtheit steht zu erwarten, daß das Ministerium in dieser Angelegenheit siegen wird. Wahrscheinlich aber wird dies nur in Folge der Unterstützung möglich sein, welche die Parteien der Rechten der Regierung und den gemäßigten Republikanern nothgedrungen leisten werden, um ihre Freunde Broglie, Fourtou u. s. w. vor gerichtlicher Verfolgung zu sichern, und so könnte dieser Sieg Waddington's der Vorbote einer baldigen Niederlage sein. Verständig und politisch wird die Forderung der Radikalen dadurch freilich nicht. Die Politik kennt keine Gefühle, also auch die Rachsucht nicht. Politisch handeln heißt zweckvoll handeln. Die Versetzung der Minister vom 16. Mai in den Anklagestand kann keinen wirklichen Zweck haben. Sie ist eine politische Ungeschick¬ lichkeit und juristisch nicht ausführbar. Mac Mahon ist nicht mehr das Oberhaupt der vollziehenden Gewalt, und es wird schwerlich jemand beabsichtigen, ihn aufzusuchen und vor das Forum der Gerichte zu ziehen. Der Hauptverant¬ wortliche würde also dem Prozesse fehlen. Sagt man uns, der Präsident sei unverantwortlich, so ist das eine Fiktion, die sich auf dem Papier gut aus¬ nimmt, von der Geschichte aber nicht beachtet zu werden pflegt. Karl X. war nach der Charte auch unverantwortlich, und seine Minister hätten also allein bestraft werden müssen. Dies geschah, aber auch der König mußte in die Ver¬ bannung gehen. Ludwig Philipp war verfassungsmäßig ebenfalls unverant¬ wortlich, aber auch ihn traf für das, was dem Volke an ihm nicht gefiel, die Strafe des Exils. Hat es aber nun jemals einen politischen Akt gegeben, den man mit vollem Rechte einen persönlichen nennen darf, so war es das Mani¬ fest des Marschall-Präsidenten vom 16. Mai, welches der Bildung des Staats¬ streich - Kabinets vorausging. Es war im allereigentlichsten Sinne das Her¬ vortreten einer persönlichen, von allen andern staatlichen Gewalten unabhängigen Negierung. Gleichzeitig aber war anzuerkennen, daß dieser gewaltsame Akt °n sich weder gegen die Verfassung noch gegen die Gesetzlichkeit verstieß. Der 16. Mai war ein moralischer Staatsstreich, gerade wegen dieser Eigen¬ schaft aber ist er gesetzlich unfaßbar. In den Grenzen der Verfassung wurde die Verantwortlichkeit für denselben vom französischen Senate getheilt, welcher die Auflösung der eben erst gewählten Deputirtenkammer bewilligte. Will man auch diese alte Majorität des Senats vor die Gerichte ziehen? Minister haben sich zu Werkzeugen einer Verschwörung gegen die Republik hergegeben. Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/337>, abgerufen am 23.07.2024.