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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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waren und alle wirkliche Religion für Aberglauben hielten. Nicht nur eine
Philosophie wie die Kant's, Fichte's, Schelling's, sondern auch eine Poesie wie
die Goethe's erklärte er für Ausschweifungen der Genialität, für Verirrungen
des deutschen Geistes*) und stellte ihnen die Weisheit seines gesunden Menschen¬
verstandes gegenüber. Eins der Lieblingsthemata dieser Leute war natürlich
das "dunkle Mittelalter", und im Grunde gegenüber aller wahren Poesie,
namentlich auch gegenüber dem "Shakespeare'schen Gespensterwesen und ähn¬
lichen Phantomen", wie sie sagten, priesen sie den Berliner Verstand. Wenn
"ut den Herolden einer solchen Auffassung der Literatur und Dichtkunst die
Religion auf einem gespannten Fuße stand, so folgt daraus wohl nicht viel
sür die wesentliche Unverträglichkeit des Geistes der Poesie und des Geistes
der Religion.

Eine ganz andere Schätzung, als von Seiten der Literaten der Aufklärung,
faud, wenn auch nicht durchweg das religiöse Bedürfniß selbst, doch die dem¬
selben mit zu Grunde liegende Stimmung der Gemüther bei den Männern
der Richtung, welche eine Zeit lang im Kampfe mit der herrschenden Auf¬
klärung sich Bahn brach und alsdann über diese den Sieg davontrug, bei den
Dichtern und Sprechern der klassischen Genialitätsepoche. Es handelt sich hier
um das Auftreten und die Wirkungen jener Gährung, welche um die siebziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts in der deutschen Nationalliteratur zum Aus¬
bruche kam. In poetisch anschaulicher Form stellten unsere Dichterfürsten im
Vereine mit anderen dem deutschen Volke ein neues Lebensideal vor Augen.
Sie durchbrachen die Schranken des Aufklärungszeitalters, welches trotz seiner
Verstandesbildung viel Engherziges, Kleinbürgerliches und Philisterhaftes übrig
gelassen hatte, sie durchbrachen dieselben mit genialer Kühnheit. Denn die
Losung dieses neuen Geschlechts war nicht mehr die Aufklärung, sondern das
Geniale. "Es regte sich in dem künstlichen Bau geselliger Ordnung, aus dem
die Seele gewichen war, die Sehnsucht nach der Natur".**) Dem neuen Geschlechte
genügte nicht nur nicht mehr die wiedergewonnene Verstandesbildung, sondern
auch die Charakterbildung galt ihm nicht als die einzige Aufgabe. Man forderte
die Rechte des ganzen Menschen, allen Bedürfnissen der menschlichen Brust
sollte Befriedigung werden, alle Kräfte des menschlichen Wesens sollten in
Bewegung gesetzt werden, um die Fülle desselben zu offenbaren. Nicht ein¬
seitig auf die Kraft, Begriffe zu bilden und den Willen durch sie zu bestimmen,
^gte man Werth, sondern man ging auf die elementarsten Regungen der mensch¬
lichen Seele und auf die Natur zurück; man wies auf die unmittelbare An-




*) Vgl. R. Haym, Die romantische Schule, Berlin 1870. S. 732.
**) R. Haym, a. a. O. S. 11. Vgl. zu dem Folgenden auch W. Dilthey, Leben
Schleiermacher's, 1870, S. 165--182.

waren und alle wirkliche Religion für Aberglauben hielten. Nicht nur eine
Philosophie wie die Kant's, Fichte's, Schelling's, sondern auch eine Poesie wie
die Goethe's erklärte er für Ausschweifungen der Genialität, für Verirrungen
des deutschen Geistes*) und stellte ihnen die Weisheit seines gesunden Menschen¬
verstandes gegenüber. Eins der Lieblingsthemata dieser Leute war natürlich
das „dunkle Mittelalter", und im Grunde gegenüber aller wahren Poesie,
namentlich auch gegenüber dem „Shakespeare'schen Gespensterwesen und ähn¬
lichen Phantomen", wie sie sagten, priesen sie den Berliner Verstand. Wenn
»ut den Herolden einer solchen Auffassung der Literatur und Dichtkunst die
Religion auf einem gespannten Fuße stand, so folgt daraus wohl nicht viel
sür die wesentliche Unverträglichkeit des Geistes der Poesie und des Geistes
der Religion.

Eine ganz andere Schätzung, als von Seiten der Literaten der Aufklärung,
faud, wenn auch nicht durchweg das religiöse Bedürfniß selbst, doch die dem¬
selben mit zu Grunde liegende Stimmung der Gemüther bei den Männern
der Richtung, welche eine Zeit lang im Kampfe mit der herrschenden Auf¬
klärung sich Bahn brach und alsdann über diese den Sieg davontrug, bei den
Dichtern und Sprechern der klassischen Genialitätsepoche. Es handelt sich hier
um das Auftreten und die Wirkungen jener Gährung, welche um die siebziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts in der deutschen Nationalliteratur zum Aus¬
bruche kam. In poetisch anschaulicher Form stellten unsere Dichterfürsten im
Vereine mit anderen dem deutschen Volke ein neues Lebensideal vor Augen.
Sie durchbrachen die Schranken des Aufklärungszeitalters, welches trotz seiner
Verstandesbildung viel Engherziges, Kleinbürgerliches und Philisterhaftes übrig
gelassen hatte, sie durchbrachen dieselben mit genialer Kühnheit. Denn die
Losung dieses neuen Geschlechts war nicht mehr die Aufklärung, sondern das
Geniale. „Es regte sich in dem künstlichen Bau geselliger Ordnung, aus dem
die Seele gewichen war, die Sehnsucht nach der Natur".**) Dem neuen Geschlechte
genügte nicht nur nicht mehr die wiedergewonnene Verstandesbildung, sondern
auch die Charakterbildung galt ihm nicht als die einzige Aufgabe. Man forderte
die Rechte des ganzen Menschen, allen Bedürfnissen der menschlichen Brust
sollte Befriedigung werden, alle Kräfte des menschlichen Wesens sollten in
Bewegung gesetzt werden, um die Fülle desselben zu offenbaren. Nicht ein¬
seitig auf die Kraft, Begriffe zu bilden und den Willen durch sie zu bestimmen,
^gte man Werth, sondern man ging auf die elementarsten Regungen der mensch¬
lichen Seele und auf die Natur zurück; man wies auf die unmittelbare An-




*) Vgl. R. Haym, Die romantische Schule, Berlin 1870. S. 732.
**) R. Haym, a. a. O. S. 11. Vgl. zu dem Folgenden auch W. Dilthey, Leben
Schleiermacher's, 1870, S. 165—182.
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[0311] waren und alle wirkliche Religion für Aberglauben hielten. Nicht nur eine Philosophie wie die Kant's, Fichte's, Schelling's, sondern auch eine Poesie wie die Goethe's erklärte er für Ausschweifungen der Genialität, für Verirrungen des deutschen Geistes*) und stellte ihnen die Weisheit seines gesunden Menschen¬ verstandes gegenüber. Eins der Lieblingsthemata dieser Leute war natürlich das „dunkle Mittelalter", und im Grunde gegenüber aller wahren Poesie, namentlich auch gegenüber dem „Shakespeare'schen Gespensterwesen und ähn¬ lichen Phantomen", wie sie sagten, priesen sie den Berliner Verstand. Wenn »ut den Herolden einer solchen Auffassung der Literatur und Dichtkunst die Religion auf einem gespannten Fuße stand, so folgt daraus wohl nicht viel sür die wesentliche Unverträglichkeit des Geistes der Poesie und des Geistes der Religion. Eine ganz andere Schätzung, als von Seiten der Literaten der Aufklärung, faud, wenn auch nicht durchweg das religiöse Bedürfniß selbst, doch die dem¬ selben mit zu Grunde liegende Stimmung der Gemüther bei den Männern der Richtung, welche eine Zeit lang im Kampfe mit der herrschenden Auf¬ klärung sich Bahn brach und alsdann über diese den Sieg davontrug, bei den Dichtern und Sprechern der klassischen Genialitätsepoche. Es handelt sich hier um das Auftreten und die Wirkungen jener Gährung, welche um die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der deutschen Nationalliteratur zum Aus¬ bruche kam. In poetisch anschaulicher Form stellten unsere Dichterfürsten im Vereine mit anderen dem deutschen Volke ein neues Lebensideal vor Augen. Sie durchbrachen die Schranken des Aufklärungszeitalters, welches trotz seiner Verstandesbildung viel Engherziges, Kleinbürgerliches und Philisterhaftes übrig gelassen hatte, sie durchbrachen dieselben mit genialer Kühnheit. Denn die Losung dieses neuen Geschlechts war nicht mehr die Aufklärung, sondern das Geniale. „Es regte sich in dem künstlichen Bau geselliger Ordnung, aus dem die Seele gewichen war, die Sehnsucht nach der Natur".**) Dem neuen Geschlechte genügte nicht nur nicht mehr die wiedergewonnene Verstandesbildung, sondern auch die Charakterbildung galt ihm nicht als die einzige Aufgabe. Man forderte die Rechte des ganzen Menschen, allen Bedürfnissen der menschlichen Brust sollte Befriedigung werden, alle Kräfte des menschlichen Wesens sollten in Bewegung gesetzt werden, um die Fülle desselben zu offenbaren. Nicht ein¬ seitig auf die Kraft, Begriffe zu bilden und den Willen durch sie zu bestimmen, ^gte man Werth, sondern man ging auf die elementarsten Regungen der mensch¬ lichen Seele und auf die Natur zurück; man wies auf die unmittelbare An- *) Vgl. R. Haym, Die romantische Schule, Berlin 1870. S. 732. **) R. Haym, a. a. O. S. 11. Vgl. zu dem Folgenden auch W. Dilthey, Leben Schleiermacher's, 1870, S. 165—182.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/311>, abgerufen am 27.08.2024.