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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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gischen, sondern auf einer geistigen Religion beruht, immer auch einen Kreis
von Vorstellungen voraus. Aber, soweit diese Vorstellungen wirklich nur
Ausdruck der Frömmigkeit rein als solcher sind, wohnt ihnen wesentlich eine
Beschaffenheit bei, vermöge deren sie das kalte Licht des rechnenden und schnei¬
digen Verstandes nicht vertragen. Religiöse Vorstellungen haben immer und
wesentlich etwas sinnbildliches, Ahnungsvolles, Lebenswarmes, Tiefsinniges,
Prophetisches. Da handelt es sich weniger um Schärfe und Klarheit, als um
Tiefe und Fülle. Sie bergen einen Reichthum, der stets nur abnimmt, wenn
man daran geht, sein Metall zu baarer, im Alltagsleben gangbarer Münze aus¬
zuprägen. Und ziemlich dasselbe gilt von der Poesie. Der reflektirende Ver¬
stand führt eine bildlose, farblose, nackte, kühle Sprache. Nöthigt er als Tyrann
eine solche dem religiösen Leben oder der Dichtkunst auf, so müssen beide ver¬
stummen. Wie faßte aber Gottsched, einer der Heroen der Aufklärung, die
Poesie? Er band sie an mechanische, den Franzosen entlehnte Regeln nüchterner
Reflexion und machte zu ihrem Inhalt und Zweck eine nüchterne Moral.
Seine kritische Dichtkunst liest sich, wie David Strauß") mit Recht bemerkt,
stellenweise wie ein Kochbuch. Seine Anleitung z. B. zur Verfertigung einer
guten Fabel klingt genau, wie ein Rezept. Zuerst, sagt er, wühle man sich
einen lehrreichen, moralischen Satz (M. einen lehrreichen und einen moralischen).
Dann suche man eine Handlung, darin dieser Satz sich zeigt, u. s. w.**)
Nach demselben Lehrbuche war Homer ein vortrefflicher Moralist: "Durch die
Ilias wollte er lehren, daß Uneinigkeit kein gut thue; durch die Odyssee, daß
die Abwesenheit eines Herren aus seinem Hause oder Reiche sehr schädlich sei."
Sollte aber jemand von uns auf die Meinung gerathen, ein Dichter dürfe
und solle uns zu der Welt des göttlich Geheimnißvollen, des Unendlichen, des
für den Verstand Unfaßbarem emporheben, fo sagt dagegen Gottsched: "Kluge
Dichter bleiben bei dem Wahrscheinlichen, d. h. bei menschlichen und solchen
Dingen, deren Wesen und Wirken zu beurtheilen, nicht über die Grenzen unserer
Einsicht geht." Der Kopf müsse erst recht in die Falten gerückt sein, so werde
hernach die Feder des Dichters schon von selbst folgen. Ein zweiter Gottsched
war der statt vieler anderer noch erwähnte außerordentlich einflußreiche Heros
der Aufklärung: Friedrich Nicolai. Dieser hatte früher einmal im Verein mit
Lessing gewirkt und sich wirkliche Verdienste erworben. Später aber, als nicht
nur Klopstock und Lessing, sondern auch schon Goethe hervorgetreten war, wurde
und blieb Nicolai der beschränkteste und rücksichtsloseste Anführer der Fana¬
tiker des Nützlichen, welche gegen Versündigungen an der Kunst gleichgiltig



*) Klopstock's Jugendgeschichte (Bonn, 1378), S. 16 (bes. Wdr, aus den gesammelten
Schriften). *") Gottsched, Kritische Dichtkunst, S. 161 f., 346.

gischen, sondern auf einer geistigen Religion beruht, immer auch einen Kreis
von Vorstellungen voraus. Aber, soweit diese Vorstellungen wirklich nur
Ausdruck der Frömmigkeit rein als solcher sind, wohnt ihnen wesentlich eine
Beschaffenheit bei, vermöge deren sie das kalte Licht des rechnenden und schnei¬
digen Verstandes nicht vertragen. Religiöse Vorstellungen haben immer und
wesentlich etwas sinnbildliches, Ahnungsvolles, Lebenswarmes, Tiefsinniges,
Prophetisches. Da handelt es sich weniger um Schärfe und Klarheit, als um
Tiefe und Fülle. Sie bergen einen Reichthum, der stets nur abnimmt, wenn
man daran geht, sein Metall zu baarer, im Alltagsleben gangbarer Münze aus¬
zuprägen. Und ziemlich dasselbe gilt von der Poesie. Der reflektirende Ver¬
stand führt eine bildlose, farblose, nackte, kühle Sprache. Nöthigt er als Tyrann
eine solche dem religiösen Leben oder der Dichtkunst auf, so müssen beide ver¬
stummen. Wie faßte aber Gottsched, einer der Heroen der Aufklärung, die
Poesie? Er band sie an mechanische, den Franzosen entlehnte Regeln nüchterner
Reflexion und machte zu ihrem Inhalt und Zweck eine nüchterne Moral.
Seine kritische Dichtkunst liest sich, wie David Strauß") mit Recht bemerkt,
stellenweise wie ein Kochbuch. Seine Anleitung z. B. zur Verfertigung einer
guten Fabel klingt genau, wie ein Rezept. Zuerst, sagt er, wühle man sich
einen lehrreichen, moralischen Satz (M. einen lehrreichen und einen moralischen).
Dann suche man eine Handlung, darin dieser Satz sich zeigt, u. s. w.**)
Nach demselben Lehrbuche war Homer ein vortrefflicher Moralist: „Durch die
Ilias wollte er lehren, daß Uneinigkeit kein gut thue; durch die Odyssee, daß
die Abwesenheit eines Herren aus seinem Hause oder Reiche sehr schädlich sei."
Sollte aber jemand von uns auf die Meinung gerathen, ein Dichter dürfe
und solle uns zu der Welt des göttlich Geheimnißvollen, des Unendlichen, des
für den Verstand Unfaßbarem emporheben, fo sagt dagegen Gottsched: „Kluge
Dichter bleiben bei dem Wahrscheinlichen, d. h. bei menschlichen und solchen
Dingen, deren Wesen und Wirken zu beurtheilen, nicht über die Grenzen unserer
Einsicht geht." Der Kopf müsse erst recht in die Falten gerückt sein, so werde
hernach die Feder des Dichters schon von selbst folgen. Ein zweiter Gottsched
war der statt vieler anderer noch erwähnte außerordentlich einflußreiche Heros
der Aufklärung: Friedrich Nicolai. Dieser hatte früher einmal im Verein mit
Lessing gewirkt und sich wirkliche Verdienste erworben. Später aber, als nicht
nur Klopstock und Lessing, sondern auch schon Goethe hervorgetreten war, wurde
und blieb Nicolai der beschränkteste und rücksichtsloseste Anführer der Fana¬
tiker des Nützlichen, welche gegen Versündigungen an der Kunst gleichgiltig



*) Klopstock's Jugendgeschichte (Bonn, 1378), S. 16 (bes. Wdr, aus den gesammelten
Schriften). *») Gottsched, Kritische Dichtkunst, S. 161 f., 346.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/310>, abgerufen am 27.08.2024.