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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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einer ruhigen Kritik unterzogen und das Bleibende zusammengefaßt. Einer zu
großen Nachsicht kann man ihn niemals zeihen. Jedes irgendwie zweifelhafte
Werk hat er vorsichtig bei Seite gelassen, um das Bild, welches er von dem
Schaffen der beiden Meister entwirft, nicht zu verwirren. Der späteren For¬
schung, die von Springer ihren Ausgang nehmen wird, muß es vorbehalten
bleiben, seine Zweifel zu widerlegen oder zu begründen. Mit dem sogenannten
"Stilgefühl" ist bei derartigen Untersuchungen nichts gethan. Die wissenschaft¬
liche Methode verlangt objektivere Beweismittel, als sie uns ein unbestimmtes
Gefühl zu bieten vermag. Crowe und Cavaleaselle haben sich in ihrer grund¬
legenden "Geschichte der italienischen Malerei" sorgfältig vor so vagen Argu¬
menten gehütet. Auf ihren kritischen Gängen haben sie niemals ihren Aus¬
gang von Gefühlen, sondern von Thatsachen genommen, und diese Methode
müssen wir als eine so werthvolle Errungenschaft bezeichnen, daß wir sie selbst
durch eine so hervorragende Autorität wie Springer nicht in Frage gestellt zu
sehen wünschten. Der Satz Springer's: "Das Stilgefühl hat das letzte Wort,
es liebt aber bekanntlich ein allerletztes Wort zuweilen anzufügen, welches dem
früheren letzten widerspricht" -- dieser Satz, so geistreich er auch klingen mag,
darf für die kunstwissenschaftliche Kritik keinen autoritativen Werth gewinnen.

Der künftigen Forschung wird es also vorbehalten bleiben, die Zweifel zu
beseitigen oder zu kräftigen, welche Springer gegenüber der Madonna von
Brügge erhoben hat. Es dürfte dann an der Zeit sein, auch die lauge Reihe
der Michel Angelo zugeschriebenen kleinen Originalmodelle in Thon oder Wachs
einer Untersuchung auf ihren Ursprung hin zu unterziehen. Mit besonderer
Hartnäckigkeit behaupten sich zwei solcher Thonmodelle, eines zum Moses und
eines zur Madonna für die Medicäergrüver, die sich beide zu Berlin in Privat¬
besitz befinden.

Jedes Werk von der Hand Raffael's oder Michel Angelo's verlangt seine
besondere Biographie, die immer in zwei Abschnitte zerfällt. Der erste umfaßt
die Genesis des Werkes unter der Hand des Meisters, der zweite seine Schick¬
sale bis ans unsere Zeit. Mit Hilfe des ungeheuren photographischen Materials,
welches Springer Dank einer fündundzwanzigjährigen Lehrthätigkeit vollkommen
beherrscht, hat er in den meisten Fällen die ersten Hälften dieser Biographien
sicher gestellt. Selbstverständlich bleiben noch genug Lücken in der genetischen
Entwickelung dieses oder jenes Werkes übrig. Jeder Tag kann einen neuen
Fund bringen, der ein neues Licht auf manches Räthsel wirft. Wie fehr solche
von Springer mit großem Glück bewerkstelligte Reproduktionen der Ent-
stehungsart von Kunstwerken noch der Erweiterung fähig sind, hat kürzlich
Thausing, übrigens unabhängig von Springer, in einem trefflichen Aufsatze
über Michel Angelo's Karton der badenden Soldaten (Zeitschrift für bildende


einer ruhigen Kritik unterzogen und das Bleibende zusammengefaßt. Einer zu
großen Nachsicht kann man ihn niemals zeihen. Jedes irgendwie zweifelhafte
Werk hat er vorsichtig bei Seite gelassen, um das Bild, welches er von dem
Schaffen der beiden Meister entwirft, nicht zu verwirren. Der späteren For¬
schung, die von Springer ihren Ausgang nehmen wird, muß es vorbehalten
bleiben, seine Zweifel zu widerlegen oder zu begründen. Mit dem sogenannten
„Stilgefühl" ist bei derartigen Untersuchungen nichts gethan. Die wissenschaft¬
liche Methode verlangt objektivere Beweismittel, als sie uns ein unbestimmtes
Gefühl zu bieten vermag. Crowe und Cavaleaselle haben sich in ihrer grund¬
legenden „Geschichte der italienischen Malerei" sorgfältig vor so vagen Argu¬
menten gehütet. Auf ihren kritischen Gängen haben sie niemals ihren Aus¬
gang von Gefühlen, sondern von Thatsachen genommen, und diese Methode
müssen wir als eine so werthvolle Errungenschaft bezeichnen, daß wir sie selbst
durch eine so hervorragende Autorität wie Springer nicht in Frage gestellt zu
sehen wünschten. Der Satz Springer's: „Das Stilgefühl hat das letzte Wort,
es liebt aber bekanntlich ein allerletztes Wort zuweilen anzufügen, welches dem
früheren letzten widerspricht" — dieser Satz, so geistreich er auch klingen mag,
darf für die kunstwissenschaftliche Kritik keinen autoritativen Werth gewinnen.

Der künftigen Forschung wird es also vorbehalten bleiben, die Zweifel zu
beseitigen oder zu kräftigen, welche Springer gegenüber der Madonna von
Brügge erhoben hat. Es dürfte dann an der Zeit sein, auch die lauge Reihe
der Michel Angelo zugeschriebenen kleinen Originalmodelle in Thon oder Wachs
einer Untersuchung auf ihren Ursprung hin zu unterziehen. Mit besonderer
Hartnäckigkeit behaupten sich zwei solcher Thonmodelle, eines zum Moses und
eines zur Madonna für die Medicäergrüver, die sich beide zu Berlin in Privat¬
besitz befinden.

Jedes Werk von der Hand Raffael's oder Michel Angelo's verlangt seine
besondere Biographie, die immer in zwei Abschnitte zerfällt. Der erste umfaßt
die Genesis des Werkes unter der Hand des Meisters, der zweite seine Schick¬
sale bis ans unsere Zeit. Mit Hilfe des ungeheuren photographischen Materials,
welches Springer Dank einer fündundzwanzigjährigen Lehrthätigkeit vollkommen
beherrscht, hat er in den meisten Fällen die ersten Hälften dieser Biographien
sicher gestellt. Selbstverständlich bleiben noch genug Lücken in der genetischen
Entwickelung dieses oder jenes Werkes übrig. Jeder Tag kann einen neuen
Fund bringen, der ein neues Licht auf manches Räthsel wirft. Wie fehr solche
von Springer mit großem Glück bewerkstelligte Reproduktionen der Ent-
stehungsart von Kunstwerken noch der Erweiterung fähig sind, hat kürzlich
Thausing, übrigens unabhängig von Springer, in einem trefflichen Aufsatze
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/31>, abgerufen am 23.07.2024.