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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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der Leipziger Professor Gottsched und der Berliner Buchhändler und Schrift¬
steller Friedrich Nicolai, den seine Schwingen regenden Genius der Poesie,
ohne es zu wollen, in Wahrheit niederhielten und unterdrückten. Auch die
Aufklärungsperiode war ein nothwendiges Durchgangsstadium der deutschen
Kulturentwickelung. Seit Jahrhunderten hatte auf dem gesammten geistigen
Leben der Druck eiuer beengenden Autorität, der Autorität eines überlieferungs¬
mäßigen Kircheuthums gelastet, welche dem freien Aufschwünge Fesseln anlegte.
Es war ganz in der Ordnung, daß man dieses Joch abschüttelte, daß man
die Barbarei der Hexenprozesse, den Buchstabendienst und den Mirakelglauben
bekämpfte, daß man anstatt polizeilicher oder konsistorialer Unterdrückung für
die von der Orthodoxie abweichenden Ueberzeugungen Duldung forderte, daß
man dem Obskurantismus gegenüber auf Klarheit, gegenüber dem unfruchtbaren
Scholästizismus auf das praktisch Werthvolle drang. Aber das Aufklärnngs-
Prinzip wurde vou den meisten seiner Vertreter in verkehrter, allzu zudringlicher
Weise gehandhabt, namentlich irrte man in der Ausdehnung desselben auf Ge¬
biete, auf die es gar nicht anwendbar ist. Alle Wissenschaft muß nicht nur
schöpferisch, nämlich nachschaffend, sondern anch kritisch sein, auch die theologische
Wissenschaft, auch die Aesthetik. Aber etwas anderes, als die Theologie, ist
die Religion, und etwas anderes, als die Aesthetik, ist die Kunst, also auch die
Poesie. Die Stichwörter der Aufklärung waren "Licht" und "Nutzen". Klar¬
heit und Licht ist nun allerdings in irgend einem Sinne allenthalben etwas
Wohlthätiges, und eine praktische Abzielung hat nicht nur das Religiöse -- denn
der Fromme ist auf sein Heil bedacht, indem er sein Abhängigkeitsgefühl und
sein Freiheitsgefühl im Gedanken an Gott mit einander ausgleichen und ver¬
söhnen will --, sondern gewissermaßen auch die Kunst, die ja unsere Affekte
nicht nur erregen, sondern auch reinigen soll. Es kommt aber sehr viel darauf
an, wie der Begriff des Praktischen und die Forderung des Lichtvollen gefaßt
wird. Wird das Praktische verwechselt mit dem Nützlichen im trivialen, haus¬
backenen Sinne, so ist die Idealität des religiösen und des Kunstlebens bedroht,
und an die Stelle der inhaltvollen Begriffe der Seligkeit und der dichterischen
Begeisterung treten dann die flachen Gedanken der Glückseligkeit und der
Nüchternheit. Jene einseitige Werthschätzung des unmittelbar praktisch Ver¬
wendbaren oder des Nützlichen mußte Kunst und Religion verderben. Und ebenso
verhält es sich mit dem Dringen der Aufklärer auf Licht und Klarheit. Reflexion
über das religiöse und Kunstleben und deren Aeußerungsformen, also Theologie
und Aesthetik, sind Dinge, die theilweise durch Klarheit und Schärfe nüchternen
Denkens vervollkommnet werden können. Aber das religiöse Leben selbst besteht
uicht in einer Denkglünbigkeit, welche sich auf Verstandesnüchternheit stützt.
Das religiöse Leben setzt allerdings, sofern es nicht ans einer magisch-hiernr-


(Ärouzlwwi I. 1L7U. 39

der Leipziger Professor Gottsched und der Berliner Buchhändler und Schrift¬
steller Friedrich Nicolai, den seine Schwingen regenden Genius der Poesie,
ohne es zu wollen, in Wahrheit niederhielten und unterdrückten. Auch die
Aufklärungsperiode war ein nothwendiges Durchgangsstadium der deutschen
Kulturentwickelung. Seit Jahrhunderten hatte auf dem gesammten geistigen
Leben der Druck eiuer beengenden Autorität, der Autorität eines überlieferungs¬
mäßigen Kircheuthums gelastet, welche dem freien Aufschwünge Fesseln anlegte.
Es war ganz in der Ordnung, daß man dieses Joch abschüttelte, daß man
die Barbarei der Hexenprozesse, den Buchstabendienst und den Mirakelglauben
bekämpfte, daß man anstatt polizeilicher oder konsistorialer Unterdrückung für
die von der Orthodoxie abweichenden Ueberzeugungen Duldung forderte, daß
man dem Obskurantismus gegenüber auf Klarheit, gegenüber dem unfruchtbaren
Scholästizismus auf das praktisch Werthvolle drang. Aber das Aufklärnngs-
Prinzip wurde vou den meisten seiner Vertreter in verkehrter, allzu zudringlicher
Weise gehandhabt, namentlich irrte man in der Ausdehnung desselben auf Ge¬
biete, auf die es gar nicht anwendbar ist. Alle Wissenschaft muß nicht nur
schöpferisch, nämlich nachschaffend, sondern anch kritisch sein, auch die theologische
Wissenschaft, auch die Aesthetik. Aber etwas anderes, als die Theologie, ist
die Religion, und etwas anderes, als die Aesthetik, ist die Kunst, also auch die
Poesie. Die Stichwörter der Aufklärung waren „Licht" und „Nutzen". Klar¬
heit und Licht ist nun allerdings in irgend einem Sinne allenthalben etwas
Wohlthätiges, und eine praktische Abzielung hat nicht nur das Religiöse — denn
der Fromme ist auf sein Heil bedacht, indem er sein Abhängigkeitsgefühl und
sein Freiheitsgefühl im Gedanken an Gott mit einander ausgleichen und ver¬
söhnen will —, sondern gewissermaßen auch die Kunst, die ja unsere Affekte
nicht nur erregen, sondern auch reinigen soll. Es kommt aber sehr viel darauf
an, wie der Begriff des Praktischen und die Forderung des Lichtvollen gefaßt
wird. Wird das Praktische verwechselt mit dem Nützlichen im trivialen, haus¬
backenen Sinne, so ist die Idealität des religiösen und des Kunstlebens bedroht,
und an die Stelle der inhaltvollen Begriffe der Seligkeit und der dichterischen
Begeisterung treten dann die flachen Gedanken der Glückseligkeit und der
Nüchternheit. Jene einseitige Werthschätzung des unmittelbar praktisch Ver¬
wendbaren oder des Nützlichen mußte Kunst und Religion verderben. Und ebenso
verhält es sich mit dem Dringen der Aufklärer auf Licht und Klarheit. Reflexion
über das religiöse und Kunstleben und deren Aeußerungsformen, also Theologie
und Aesthetik, sind Dinge, die theilweise durch Klarheit und Schärfe nüchternen
Denkens vervollkommnet werden können. Aber das religiöse Leben selbst besteht
uicht in einer Denkglünbigkeit, welche sich auf Verstandesnüchternheit stützt.
Das religiöse Leben setzt allerdings, sofern es nicht ans einer magisch-hiernr-


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[0309] der Leipziger Professor Gottsched und der Berliner Buchhändler und Schrift¬ steller Friedrich Nicolai, den seine Schwingen regenden Genius der Poesie, ohne es zu wollen, in Wahrheit niederhielten und unterdrückten. Auch die Aufklärungsperiode war ein nothwendiges Durchgangsstadium der deutschen Kulturentwickelung. Seit Jahrhunderten hatte auf dem gesammten geistigen Leben der Druck eiuer beengenden Autorität, der Autorität eines überlieferungs¬ mäßigen Kircheuthums gelastet, welche dem freien Aufschwünge Fesseln anlegte. Es war ganz in der Ordnung, daß man dieses Joch abschüttelte, daß man die Barbarei der Hexenprozesse, den Buchstabendienst und den Mirakelglauben bekämpfte, daß man anstatt polizeilicher oder konsistorialer Unterdrückung für die von der Orthodoxie abweichenden Ueberzeugungen Duldung forderte, daß man dem Obskurantismus gegenüber auf Klarheit, gegenüber dem unfruchtbaren Scholästizismus auf das praktisch Werthvolle drang. Aber das Aufklärnngs- Prinzip wurde vou den meisten seiner Vertreter in verkehrter, allzu zudringlicher Weise gehandhabt, namentlich irrte man in der Ausdehnung desselben auf Ge¬ biete, auf die es gar nicht anwendbar ist. Alle Wissenschaft muß nicht nur schöpferisch, nämlich nachschaffend, sondern anch kritisch sein, auch die theologische Wissenschaft, auch die Aesthetik. Aber etwas anderes, als die Theologie, ist die Religion, und etwas anderes, als die Aesthetik, ist die Kunst, also auch die Poesie. Die Stichwörter der Aufklärung waren „Licht" und „Nutzen". Klar¬ heit und Licht ist nun allerdings in irgend einem Sinne allenthalben etwas Wohlthätiges, und eine praktische Abzielung hat nicht nur das Religiöse — denn der Fromme ist auf sein Heil bedacht, indem er sein Abhängigkeitsgefühl und sein Freiheitsgefühl im Gedanken an Gott mit einander ausgleichen und ver¬ söhnen will —, sondern gewissermaßen auch die Kunst, die ja unsere Affekte nicht nur erregen, sondern auch reinigen soll. Es kommt aber sehr viel darauf an, wie der Begriff des Praktischen und die Forderung des Lichtvollen gefaßt wird. Wird das Praktische verwechselt mit dem Nützlichen im trivialen, haus¬ backenen Sinne, so ist die Idealität des religiösen und des Kunstlebens bedroht, und an die Stelle der inhaltvollen Begriffe der Seligkeit und der dichterischen Begeisterung treten dann die flachen Gedanken der Glückseligkeit und der Nüchternheit. Jene einseitige Werthschätzung des unmittelbar praktisch Ver¬ wendbaren oder des Nützlichen mußte Kunst und Religion verderben. Und ebenso verhält es sich mit dem Dringen der Aufklärer auf Licht und Klarheit. Reflexion über das religiöse und Kunstleben und deren Aeußerungsformen, also Theologie und Aesthetik, sind Dinge, die theilweise durch Klarheit und Schärfe nüchternen Denkens vervollkommnet werden können. Aber das religiöse Leben selbst besteht uicht in einer Denkglünbigkeit, welche sich auf Verstandesnüchternheit stützt. Das religiöse Leben setzt allerdings, sofern es nicht ans einer magisch-hiernr- (Ärouzlwwi I. 1L7U. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/309>, abgerufen am 27.08.2024.