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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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'Uoefte und Aeligion in der neueren deutschen Literatur.

Gegenüber dem neuerdings hie und da, namentlich in David Strauß'
"Allein und neuem Glauben" hervorgetretenen Vorschlage, der Religion deu
Abschied zu geben und die Erbauung, die man seither bei ihr gesucht, fortan
vielmehr dem Kunstgenuß zu entlehnen, sowie gegenüber der vou einflußreiche"
Philosophen, wie Albert Lange, dem Geschichtschreiber des Materialismus,
versuchten Gleichstellung der Religion und der Poesie laßt sich als herrschende
Ansicht der christlich Positiven unserer Tage die Ueberzeugung betrachten, daß
in Wahrheit beide wenig mit einander zu schaffen haben. Es ist der Mühe
werth, die Nichtigkeit dieses andern Extrems zu prüfen, und, so wenig hier
eine vollständige und auch der Form nach streng wissenschaftliche Lösung der
erwähnten Streitfrage gegeben werden kann, so kann und sott doch innerhalb
eines bestimmten, nicht allzu eng begrenzten Gebietes das Zeugniß der Ge¬
schichte vernommen werden; an dieses mögen sich dann einige theoretische An¬
deutungen anreihen.

Daß es zwischen der Religion und der Poesie Beziehungen gibt und ge¬
geben hat, wird niemand leugnen, der weiß, daß gerade wir Deutschen einen
Schatz klassischer geistlicher Lieder besitzen, in denen die Dichtkunst zum Werk¬
zeuge der Religion geworden ist, und daß anch andere Formen der Poesie, als
die lyrische des Liedes, in den Dienst der Religion gezogen worden sind, daß
andererseits religiöse Gegenstände den Vorwurf für Epen und nicht minder für
dramatische Dichtungen gebildet haben. Wer kennte nicht Paul Gerhard's geist¬
liche Lieder, wer wüßte nichts von Klopstock's .Messias"? Ju den letzten
Jahrzehnten hat sich namentlich anch der Roman religiöser Stoffe bemächtigt, oder
vielmehr religiöse Tendenzen haben sich unter anderm des Romans als eines
Mittels bedient zur Veranschaulichn"", und Verbreitung religiöser Ideen. Be¬
ziehungen also zwischen beiden Gebieten kennt und erkennt an -- jeder Gebildete.

Aber freilich, bloße Beziehungen könnten etwas Aeußerliches und Zu¬
fälliges, etwas in seiner Zufälligkeit Unfaßbares und deshalb anch unsere
Beachtung uicht Verdieuendes sein und bleibe", wenn nicht den thatsächlichen
Beziehungen und vielfältigen Berührungen ein wesentliches, in der Natur der
Sache liegendes Verhältniß und irgend ein innerer organischer Einheitspunkt,
kurz irgend eine Wurzelgemeinschaft zu Grunde läge. Ob und inwiefern dies
der Fall sei, dies anzudeuten möge hier versucht werde", und zwar zunächst
an der Hand der neueren deutschen Literaturgeschichte, welcher parallel geht
die Geschichte der neueren deutschen Theologie. Die neuere Geschichte der
Beziehungen zwischeu Religion und Poesie kann uns freilich nicht unmittelbar


'Uoefte und Aeligion in der neueren deutschen Literatur.

Gegenüber dem neuerdings hie und da, namentlich in David Strauß'
„Allein und neuem Glauben" hervorgetretenen Vorschlage, der Religion deu
Abschied zu geben und die Erbauung, die man seither bei ihr gesucht, fortan
vielmehr dem Kunstgenuß zu entlehnen, sowie gegenüber der vou einflußreiche»
Philosophen, wie Albert Lange, dem Geschichtschreiber des Materialismus,
versuchten Gleichstellung der Religion und der Poesie laßt sich als herrschende
Ansicht der christlich Positiven unserer Tage die Ueberzeugung betrachten, daß
in Wahrheit beide wenig mit einander zu schaffen haben. Es ist der Mühe
werth, die Nichtigkeit dieses andern Extrems zu prüfen, und, so wenig hier
eine vollständige und auch der Form nach streng wissenschaftliche Lösung der
erwähnten Streitfrage gegeben werden kann, so kann und sott doch innerhalb
eines bestimmten, nicht allzu eng begrenzten Gebietes das Zeugniß der Ge¬
schichte vernommen werden; an dieses mögen sich dann einige theoretische An¬
deutungen anreihen.

Daß es zwischen der Religion und der Poesie Beziehungen gibt und ge¬
geben hat, wird niemand leugnen, der weiß, daß gerade wir Deutschen einen
Schatz klassischer geistlicher Lieder besitzen, in denen die Dichtkunst zum Werk¬
zeuge der Religion geworden ist, und daß anch andere Formen der Poesie, als
die lyrische des Liedes, in den Dienst der Religion gezogen worden sind, daß
andererseits religiöse Gegenstände den Vorwurf für Epen und nicht minder für
dramatische Dichtungen gebildet haben. Wer kennte nicht Paul Gerhard's geist¬
liche Lieder, wer wüßte nichts von Klopstock's .Messias"? Ju den letzten
Jahrzehnten hat sich namentlich anch der Roman religiöser Stoffe bemächtigt, oder
vielmehr religiöse Tendenzen haben sich unter anderm des Romans als eines
Mittels bedient zur Veranschaulichn««, und Verbreitung religiöser Ideen. Be¬
ziehungen also zwischen beiden Gebieten kennt und erkennt an — jeder Gebildete.

Aber freilich, bloße Beziehungen könnten etwas Aeußerliches und Zu¬
fälliges, etwas in seiner Zufälligkeit Unfaßbares und deshalb anch unsere
Beachtung uicht Verdieuendes sein und bleibe«, wenn nicht den thatsächlichen
Beziehungen und vielfältigen Berührungen ein wesentliches, in der Natur der
Sache liegendes Verhältniß und irgend ein innerer organischer Einheitspunkt,
kurz irgend eine Wurzelgemeinschaft zu Grunde läge. Ob und inwiefern dies
der Fall sei, dies anzudeuten möge hier versucht werde», und zwar zunächst
an der Hand der neueren deutschen Literaturgeschichte, welcher parallel geht
die Geschichte der neueren deutschen Theologie. Die neuere Geschichte der
Beziehungen zwischeu Religion und Poesie kann uns freilich nicht unmittelbar


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[0306] 'Uoefte und Aeligion in der neueren deutschen Literatur. Gegenüber dem neuerdings hie und da, namentlich in David Strauß' „Allein und neuem Glauben" hervorgetretenen Vorschlage, der Religion deu Abschied zu geben und die Erbauung, die man seither bei ihr gesucht, fortan vielmehr dem Kunstgenuß zu entlehnen, sowie gegenüber der vou einflußreiche» Philosophen, wie Albert Lange, dem Geschichtschreiber des Materialismus, versuchten Gleichstellung der Religion und der Poesie laßt sich als herrschende Ansicht der christlich Positiven unserer Tage die Ueberzeugung betrachten, daß in Wahrheit beide wenig mit einander zu schaffen haben. Es ist der Mühe werth, die Nichtigkeit dieses andern Extrems zu prüfen, und, so wenig hier eine vollständige und auch der Form nach streng wissenschaftliche Lösung der erwähnten Streitfrage gegeben werden kann, so kann und sott doch innerhalb eines bestimmten, nicht allzu eng begrenzten Gebietes das Zeugniß der Ge¬ schichte vernommen werden; an dieses mögen sich dann einige theoretische An¬ deutungen anreihen. Daß es zwischen der Religion und der Poesie Beziehungen gibt und ge¬ geben hat, wird niemand leugnen, der weiß, daß gerade wir Deutschen einen Schatz klassischer geistlicher Lieder besitzen, in denen die Dichtkunst zum Werk¬ zeuge der Religion geworden ist, und daß anch andere Formen der Poesie, als die lyrische des Liedes, in den Dienst der Religion gezogen worden sind, daß andererseits religiöse Gegenstände den Vorwurf für Epen und nicht minder für dramatische Dichtungen gebildet haben. Wer kennte nicht Paul Gerhard's geist¬ liche Lieder, wer wüßte nichts von Klopstock's .Messias"? Ju den letzten Jahrzehnten hat sich namentlich anch der Roman religiöser Stoffe bemächtigt, oder vielmehr religiöse Tendenzen haben sich unter anderm des Romans als eines Mittels bedient zur Veranschaulichn««, und Verbreitung religiöser Ideen. Be¬ ziehungen also zwischen beiden Gebieten kennt und erkennt an — jeder Gebildete. Aber freilich, bloße Beziehungen könnten etwas Aeußerliches und Zu¬ fälliges, etwas in seiner Zufälligkeit Unfaßbares und deshalb anch unsere Beachtung uicht Verdieuendes sein und bleibe«, wenn nicht den thatsächlichen Beziehungen und vielfältigen Berührungen ein wesentliches, in der Natur der Sache liegendes Verhältniß und irgend ein innerer organischer Einheitspunkt, kurz irgend eine Wurzelgemeinschaft zu Grunde läge. Ob und inwiefern dies der Fall sei, dies anzudeuten möge hier versucht werde», und zwar zunächst an der Hand der neueren deutschen Literaturgeschichte, welcher parallel geht die Geschichte der neueren deutschen Theologie. Die neuere Geschichte der Beziehungen zwischeu Religion und Poesie kann uns freilich nicht unmittelbar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/306>, abgerufen am 27.08.2024.