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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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sonders aber unter Nikolaus, auf die Pflanzschulen der Armee gewendet wurde,
so wählte der Czar mit besonderer Vorliebe aus den Reihen der Offiziere die
höheren Beamten, und diese, ganz naturgemäß, zogen für die unteren Stellen
einen Unteroffizier mit guter Führung jedem Zivilaspiranten vor. Dies gab
der ganzen russischen Beamtenwelt, besonders in den westlichen Gouvernements,
wo man trotz alles Selbstgefühls ängstlich nach der Anerkennung der durch¬
reisenden Fremden strebte und daher die besten "Nummern" anstellte, einen
bestimmten, scharf ausgeprägten Typus. Die Geschichte ist aus dem Leben
gegriffen, daß ein zum ersten Male von Eydtkuhnen nach Petersburg reisender
Deutscher fest an dem Glauben hielt, daß es immer ein und derselbe Bahnhofs¬
inspektor, mit grauen Hosen, grauem Paletot, grauem halbrcisirten Bart und
weißer Mütze gewesen, der mit dem Zuge gefahren und nur bei jeder Station
abgesprungen sei. So hatte ihm die Gleichmäßigkeit der ganzen Spezies
imponirt.

Wenn Russenfrennde oder enragirte Patrioten in dieser Erscheinung bis¬
weilen eine Aehnlichkeit mit den römischen Beamten der besten Zeit der Repu>
but fanden, wo auch ein und dieselbe Person, je nach dem Bedürfniß des
Staats, als Offizier, Jurist, Diplomat oder Zivilgonvernenr dem Staate
Dienste leistete, so vergaß man nur dabei, daß ein römischer Jüngling von
20 Jahren mehr Kenntniß von Staatsverwaltung und Regelung der öffent¬
lichen Angelegenheiten besaß, als ein 60jähriger russischer General oder Staats¬
rath in seinem Gamaschen- oder Intrigenspiel jemals erlernen konnte. Während
der Sohn eines wohlhabenden römischen Bürgers, von erfahrenen Pädagogen
in allem Wissenswerthen unterrichtet, schou im kindlichen Alter Vater und
Verwandte als Theilnehmer über die wichtigsten Staatsgeschäfte disputiren
hören konnte, dann als Jüngling für den im Staatsdienst abwesenden Vater
um der Spitze der "Gefolgschaften", wie man die verschiedenen Klassen der
Klienten, Halbfreien und Freigelassenen bezeichnen könnte, schon eine selbstän¬
dige Rolle als Hüter und Bewahrer des Hauses spielte, die ihn vorbereitete
für den Antheil am Staatsleben, der ihm offen stand, wanderte der junge
Russe aus den Händen stumpfsinniger Sklavinnen in die oft noch unreineren
ausländischer Erzieher oder in eine despotisch überwachte Staats-,,Presse", um
von dort als Ziffer in das große Zahlensystem des "Tschin" einrangirt zu werden.
Nach kurzer Dienstzeit erwarb er sich die Geschäftsroutine und war damit
unwiderruflich der einseitigen Tretmühle mechanischer Arbeit verfallen, wenn er
nicht -- "Konnexionen" hatte.




sonders aber unter Nikolaus, auf die Pflanzschulen der Armee gewendet wurde,
so wählte der Czar mit besonderer Vorliebe aus den Reihen der Offiziere die
höheren Beamten, und diese, ganz naturgemäß, zogen für die unteren Stellen
einen Unteroffizier mit guter Führung jedem Zivilaspiranten vor. Dies gab
der ganzen russischen Beamtenwelt, besonders in den westlichen Gouvernements,
wo man trotz alles Selbstgefühls ängstlich nach der Anerkennung der durch¬
reisenden Fremden strebte und daher die besten „Nummern" anstellte, einen
bestimmten, scharf ausgeprägten Typus. Die Geschichte ist aus dem Leben
gegriffen, daß ein zum ersten Male von Eydtkuhnen nach Petersburg reisender
Deutscher fest an dem Glauben hielt, daß es immer ein und derselbe Bahnhofs¬
inspektor, mit grauen Hosen, grauem Paletot, grauem halbrcisirten Bart und
weißer Mütze gewesen, der mit dem Zuge gefahren und nur bei jeder Station
abgesprungen sei. So hatte ihm die Gleichmäßigkeit der ganzen Spezies
imponirt.

Wenn Russenfrennde oder enragirte Patrioten in dieser Erscheinung bis¬
weilen eine Aehnlichkeit mit den römischen Beamten der besten Zeit der Repu>
but fanden, wo auch ein und dieselbe Person, je nach dem Bedürfniß des
Staats, als Offizier, Jurist, Diplomat oder Zivilgonvernenr dem Staate
Dienste leistete, so vergaß man nur dabei, daß ein römischer Jüngling von
20 Jahren mehr Kenntniß von Staatsverwaltung und Regelung der öffent¬
lichen Angelegenheiten besaß, als ein 60jähriger russischer General oder Staats¬
rath in seinem Gamaschen- oder Intrigenspiel jemals erlernen konnte. Während
der Sohn eines wohlhabenden römischen Bürgers, von erfahrenen Pädagogen
in allem Wissenswerthen unterrichtet, schou im kindlichen Alter Vater und
Verwandte als Theilnehmer über die wichtigsten Staatsgeschäfte disputiren
hören konnte, dann als Jüngling für den im Staatsdienst abwesenden Vater
um der Spitze der „Gefolgschaften", wie man die verschiedenen Klassen der
Klienten, Halbfreien und Freigelassenen bezeichnen könnte, schon eine selbstän¬
dige Rolle als Hüter und Bewahrer des Hauses spielte, die ihn vorbereitete
für den Antheil am Staatsleben, der ihm offen stand, wanderte der junge
Russe aus den Händen stumpfsinniger Sklavinnen in die oft noch unreineren
ausländischer Erzieher oder in eine despotisch überwachte Staats-,,Presse", um
von dort als Ziffer in das große Zahlensystem des „Tschin" einrangirt zu werden.
Nach kurzer Dienstzeit erwarb er sich die Geschäftsroutine und war damit
unwiderruflich der einseitigen Tretmühle mechanischer Arbeit verfallen, wenn er
nicht — „Konnexionen" hatte.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/305>, abgerufen am 27.08.2024.