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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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nahmen nnter seinen eigenen Landeskindern waren das einzige Material, über
das er zunächst verfügen konnte. Um aus der rohen Masse des Volkes die
zahlreich vorhandenen edleren Elemente an's Licht zu ziehen und zum Dienst
für den Staat heranzulocken, ergriff der geniale Herrscher ein ebenso originelles
wie wirksames Mittel, welches auf eine der mächtigsten Triebfedern menschlicher
Handlungen, die Selbstsucht, oder wenn man es lieber Hort, den Ehrgeiz, basirt
war. Dies war der Entwurf des "Tschin", einer allgemeinen, alle Stände
des Reiches umfassenden Rangliste, die von dem Gesichtspunkte aus entworfen
ist, daß überall die Vertreter der staatlichen Idee, die Beamten, soweit ihnen
die höhere Karriere offen steht -- und dieser Spielraum war viel weiter ge¬
griffen, als in ähnlichen Staatskalendern der westlichen Staaten -- vor dem
bedeutendsten und reichsten Privatmann rangirten. Dieser "Tschin" aber ent¬
hielt zugleich Zwangsmaßregeln für gewisse Stände; sie gingen ihrer privaten
Vorrechte zum Theil verlustig, wenn sie nicht einen Theil ihrer Lebenszeit dem
Staatsdienste widmeten. Eine harte, aber entschieden segensreiche Maßregel.
Unerklärlicher Weise beging Peter I. hierbei den einen schweren Nechtsirrthum,
demjenigen Stande seines Reiches, der schon damals, wie heute noch, ganz
zweifellos die größte Summe von Intelligenz, Thatkraft und Reichthum reprä-
sentirte, eine verhältnißmäßig viel zu niedrig gegriffene Stufe einzuräumen.
Dies war der russische Kaufmannsstand, der schon zu jener Zeit an der Londoner
wie Holländer Börse eine Weltstellung einnahm. Hierdurch ist dieser ganze
mächtige und einflußreiche Stand in die Opposition gedrängt worden, die er
denn im Bündniß mit der orthodoxen Geistlichkeit zum Theil noch heute eifrig
kultivirt. Indessen scheint auch hier die jüngere Generation, soweit sie nicht
dem Krebsschaden der modernen Gesellschaft Rußland's, dem Nihilismus, oder
anderem, noch dotieren SeKirerwesen anheimfällt, Wege einzuschlagen, auf denen
sie besser zu des Vaterlandes Heil mitwirke" kaun, als in dem passiven Wider¬
stand der alte" Geschlechter. Eine dunkle Seite dieses "Schematismus", wie
der Oesterreicher in seinem schnurrigen Deutsch mit unbewußter Ironie den
"Tschin" nennen würde, theilt er mit allen ähnlichen Einrichtungen, wenn nicht
der geniale Blick eines großen Staatsmannes -- sei er im Purpur geboren oder
nicht -- ihm Leben einhaucht. Das ist der Umstand, daß die mit einer robusten
Gesundheit versehene Mittelmäßigkeit die größte Aussicht hat, schließlich die
höchsten Stellen im Staatsdienste für sich zu monopolisiren. Es liegt eine
bittere Wahrheit in der Anekdote eines jungen Russen von guter Familie,
welcher erzählte: "Mein Onkel hatte neulich einen Schlaganfall, da wurde er
gleich zum Senator ernannt; nun ist er fast erblindet, da ist er sofort in den
Reichsrath berufen worden; wenn er nun noch eine neue Krankheit erlebt, wird
er sicherlich Minister!" Indessen wäre es ungereimt, anzunehmen, daß diese


nahmen nnter seinen eigenen Landeskindern waren das einzige Material, über
das er zunächst verfügen konnte. Um aus der rohen Masse des Volkes die
zahlreich vorhandenen edleren Elemente an's Licht zu ziehen und zum Dienst
für den Staat heranzulocken, ergriff der geniale Herrscher ein ebenso originelles
wie wirksames Mittel, welches auf eine der mächtigsten Triebfedern menschlicher
Handlungen, die Selbstsucht, oder wenn man es lieber Hort, den Ehrgeiz, basirt
war. Dies war der Entwurf des „Tschin", einer allgemeinen, alle Stände
des Reiches umfassenden Rangliste, die von dem Gesichtspunkte aus entworfen
ist, daß überall die Vertreter der staatlichen Idee, die Beamten, soweit ihnen
die höhere Karriere offen steht — und dieser Spielraum war viel weiter ge¬
griffen, als in ähnlichen Staatskalendern der westlichen Staaten — vor dem
bedeutendsten und reichsten Privatmann rangirten. Dieser „Tschin" aber ent¬
hielt zugleich Zwangsmaßregeln für gewisse Stände; sie gingen ihrer privaten
Vorrechte zum Theil verlustig, wenn sie nicht einen Theil ihrer Lebenszeit dem
Staatsdienste widmeten. Eine harte, aber entschieden segensreiche Maßregel.
Unerklärlicher Weise beging Peter I. hierbei den einen schweren Nechtsirrthum,
demjenigen Stande seines Reiches, der schon damals, wie heute noch, ganz
zweifellos die größte Summe von Intelligenz, Thatkraft und Reichthum reprä-
sentirte, eine verhältnißmäßig viel zu niedrig gegriffene Stufe einzuräumen.
Dies war der russische Kaufmannsstand, der schon zu jener Zeit an der Londoner
wie Holländer Börse eine Weltstellung einnahm. Hierdurch ist dieser ganze
mächtige und einflußreiche Stand in die Opposition gedrängt worden, die er
denn im Bündniß mit der orthodoxen Geistlichkeit zum Theil noch heute eifrig
kultivirt. Indessen scheint auch hier die jüngere Generation, soweit sie nicht
dem Krebsschaden der modernen Gesellschaft Rußland's, dem Nihilismus, oder
anderem, noch dotieren SeKirerwesen anheimfällt, Wege einzuschlagen, auf denen
sie besser zu des Vaterlandes Heil mitwirke» kaun, als in dem passiven Wider¬
stand der alte» Geschlechter. Eine dunkle Seite dieses „Schematismus", wie
der Oesterreicher in seinem schnurrigen Deutsch mit unbewußter Ironie den
„Tschin" nennen würde, theilt er mit allen ähnlichen Einrichtungen, wenn nicht
der geniale Blick eines großen Staatsmannes — sei er im Purpur geboren oder
nicht — ihm Leben einhaucht. Das ist der Umstand, daß die mit einer robusten
Gesundheit versehene Mittelmäßigkeit die größte Aussicht hat, schließlich die
höchsten Stellen im Staatsdienste für sich zu monopolisiren. Es liegt eine
bittere Wahrheit in der Anekdote eines jungen Russen von guter Familie,
welcher erzählte: „Mein Onkel hatte neulich einen Schlaganfall, da wurde er
gleich zum Senator ernannt; nun ist er fast erblindet, da ist er sofort in den
Reichsrath berufen worden; wenn er nun noch eine neue Krankheit erlebt, wird
er sicherlich Minister!" Indessen wäre es ungereimt, anzunehmen, daß diese


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[0303] nahmen nnter seinen eigenen Landeskindern waren das einzige Material, über das er zunächst verfügen konnte. Um aus der rohen Masse des Volkes die zahlreich vorhandenen edleren Elemente an's Licht zu ziehen und zum Dienst für den Staat heranzulocken, ergriff der geniale Herrscher ein ebenso originelles wie wirksames Mittel, welches auf eine der mächtigsten Triebfedern menschlicher Handlungen, die Selbstsucht, oder wenn man es lieber Hort, den Ehrgeiz, basirt war. Dies war der Entwurf des „Tschin", einer allgemeinen, alle Stände des Reiches umfassenden Rangliste, die von dem Gesichtspunkte aus entworfen ist, daß überall die Vertreter der staatlichen Idee, die Beamten, soweit ihnen die höhere Karriere offen steht — und dieser Spielraum war viel weiter ge¬ griffen, als in ähnlichen Staatskalendern der westlichen Staaten — vor dem bedeutendsten und reichsten Privatmann rangirten. Dieser „Tschin" aber ent¬ hielt zugleich Zwangsmaßregeln für gewisse Stände; sie gingen ihrer privaten Vorrechte zum Theil verlustig, wenn sie nicht einen Theil ihrer Lebenszeit dem Staatsdienste widmeten. Eine harte, aber entschieden segensreiche Maßregel. Unerklärlicher Weise beging Peter I. hierbei den einen schweren Nechtsirrthum, demjenigen Stande seines Reiches, der schon damals, wie heute noch, ganz zweifellos die größte Summe von Intelligenz, Thatkraft und Reichthum reprä- sentirte, eine verhältnißmäßig viel zu niedrig gegriffene Stufe einzuräumen. Dies war der russische Kaufmannsstand, der schon zu jener Zeit an der Londoner wie Holländer Börse eine Weltstellung einnahm. Hierdurch ist dieser ganze mächtige und einflußreiche Stand in die Opposition gedrängt worden, die er denn im Bündniß mit der orthodoxen Geistlichkeit zum Theil noch heute eifrig kultivirt. Indessen scheint auch hier die jüngere Generation, soweit sie nicht dem Krebsschaden der modernen Gesellschaft Rußland's, dem Nihilismus, oder anderem, noch dotieren SeKirerwesen anheimfällt, Wege einzuschlagen, auf denen sie besser zu des Vaterlandes Heil mitwirke» kaun, als in dem passiven Wider¬ stand der alte» Geschlechter. Eine dunkle Seite dieses „Schematismus", wie der Oesterreicher in seinem schnurrigen Deutsch mit unbewußter Ironie den „Tschin" nennen würde, theilt er mit allen ähnlichen Einrichtungen, wenn nicht der geniale Blick eines großen Staatsmannes — sei er im Purpur geboren oder nicht — ihm Leben einhaucht. Das ist der Umstand, daß die mit einer robusten Gesundheit versehene Mittelmäßigkeit die größte Aussicht hat, schließlich die höchsten Stellen im Staatsdienste für sich zu monopolisiren. Es liegt eine bittere Wahrheit in der Anekdote eines jungen Russen von guter Familie, welcher erzählte: „Mein Onkel hatte neulich einen Schlaganfall, da wurde er gleich zum Senator ernannt; nun ist er fast erblindet, da ist er sofort in den Reichsrath berufen worden; wenn er nun noch eine neue Krankheit erlebt, wird er sicherlich Minister!" Indessen wäre es ungereimt, anzunehmen, daß diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/303>, abgerufen am 27.08.2024.