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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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war. Andererseits mußten allerdings die deutschen Edelleute und Städtepatrizier
alte wohlerworbene und theuer bezahlte Vorrechte und Gerechtsame aufgeben,
weil die russische Regierung sie nicht länger besser als die Russen selbst gestellt
wissen wollte. Der Unwille der Betroffenen ist sehr begreiflich und nicht
weniger berechtigt, als seinerzeit der des preußischen Adels, als man ihm 1808
seine Vorrechte ohne jede Entschädigung nahm. Die Klagen hatten dort eben
so wenig wie hier Erfolg. Der Zeitgeist schreitet über dergleichen hinweg.

Natürlich zerfallen die einzelnen Gouvernements wieder in Unterabthei¬
lungen (v/issiä^), welche, wenn auch meist von größerem Umfange, etwa unseren
Kreisen entsprechen. Dem System straffer Zentralisation entsprechend, existirt
unser Landrath, der doch wenigstens selbständig sein kann, wenn er will, in
Rußland nicht; an seiner Stelle waltet der Jspravnik, was eigentlich schlecht¬
weg jeden Regiernngsbecnnten, hier aber eine Stellung bezeichnet, die mit
unserem verflossenen "gestrengen Herrn Amtmann" die meiste Ähnlichkeit hat.
Der Schwerpunkt seiner Thätigkeit ruht in der lokalen Polizeiverwaltung.

An der Spitze der einzelnen Gouvernements steht ein Gouverneur, mit
einem Vizegouverneur und der oben beschriebenen Stufenleiter von Bureaux
und Komite's, den Petersburger Ministerialverhältnissen nachgebildet. Bis zu
den Reformen, welche das Werk des Kaisers Alexander's II. sind, war die
Stellung eines solchen Generalgouverneurs fast gleich der des Czaren selbst.
Eine energische, begabte Natur, und diese waren öfter vorhanden, als man
glaubt, da diese Gouverneure meist aus den höchsten Militärs gewählt wurden,
besaß eine fast unumschränkte Macht im Guten -- wie im Bösen. Groß war
die Versuchung, und im Hinblick darauf war der eigentliche Mißbrauch der
Gewalt verhältnißmüßig selten gerade von Seiten dieser Männer. Wo aber
nicht die höchste geistige Begabung des Gouverneurs diesen zum wirklichen
Leiter der Geschäfte erhob, da war die Gefahr des Mißbrauchs von Seiten
des zahllosen Beamtenheeres um so sicherer, als es an dem Material für einen
gebildeten, intelligenten, mit Ehrgefühl erfüllten Beamtenstand absolut fehlte.
Zahllose Schilderungen beweisen, wie selbst der einzelne Ehrenmann in das
allgemeine Horn blasen mußte, wenn er uicht dem Terrorismus seiner Kollegen
erliegen wollte. Weil eine jede unbefleckte, streng rechtliche Existenz eine fort¬
dauernde Bedrohung gegen die ungeheuere Majorität derjenigen war, welche
es mit den Gesetzen der Moral nicht so genau nahmen, so trat die schreckliche
Konsequenz ein, daß auch der Ehrenhafteste, und sei es nur zum Schein, der
allgemeinen Korruption huldigen mußte.

Es ist ein großes Verdienst des jetzigen Kaisers, an den Giftbaum der
Vemntenkorruption, der das ganze Reich zu verderben drohte, die vernichtende
Axt gelegt zu haben, wenn auch hier mehr, als irgendwo in der Welt, das


Gu'nzsww, I. >"79. 38

war. Andererseits mußten allerdings die deutschen Edelleute und Städtepatrizier
alte wohlerworbene und theuer bezahlte Vorrechte und Gerechtsame aufgeben,
weil die russische Regierung sie nicht länger besser als die Russen selbst gestellt
wissen wollte. Der Unwille der Betroffenen ist sehr begreiflich und nicht
weniger berechtigt, als seinerzeit der des preußischen Adels, als man ihm 1808
seine Vorrechte ohne jede Entschädigung nahm. Die Klagen hatten dort eben
so wenig wie hier Erfolg. Der Zeitgeist schreitet über dergleichen hinweg.

Natürlich zerfallen die einzelnen Gouvernements wieder in Unterabthei¬
lungen (v/issiä^), welche, wenn auch meist von größerem Umfange, etwa unseren
Kreisen entsprechen. Dem System straffer Zentralisation entsprechend, existirt
unser Landrath, der doch wenigstens selbständig sein kann, wenn er will, in
Rußland nicht; an seiner Stelle waltet der Jspravnik, was eigentlich schlecht¬
weg jeden Regiernngsbecnnten, hier aber eine Stellung bezeichnet, die mit
unserem verflossenen „gestrengen Herrn Amtmann" die meiste Ähnlichkeit hat.
Der Schwerpunkt seiner Thätigkeit ruht in der lokalen Polizeiverwaltung.

An der Spitze der einzelnen Gouvernements steht ein Gouverneur, mit
einem Vizegouverneur und der oben beschriebenen Stufenleiter von Bureaux
und Komite's, den Petersburger Ministerialverhältnissen nachgebildet. Bis zu
den Reformen, welche das Werk des Kaisers Alexander's II. sind, war die
Stellung eines solchen Generalgouverneurs fast gleich der des Czaren selbst.
Eine energische, begabte Natur, und diese waren öfter vorhanden, als man
glaubt, da diese Gouverneure meist aus den höchsten Militärs gewählt wurden,
besaß eine fast unumschränkte Macht im Guten — wie im Bösen. Groß war
die Versuchung, und im Hinblick darauf war der eigentliche Mißbrauch der
Gewalt verhältnißmüßig selten gerade von Seiten dieser Männer. Wo aber
nicht die höchste geistige Begabung des Gouverneurs diesen zum wirklichen
Leiter der Geschäfte erhob, da war die Gefahr des Mißbrauchs von Seiten
des zahllosen Beamtenheeres um so sicherer, als es an dem Material für einen
gebildeten, intelligenten, mit Ehrgefühl erfüllten Beamtenstand absolut fehlte.
Zahllose Schilderungen beweisen, wie selbst der einzelne Ehrenmann in das
allgemeine Horn blasen mußte, wenn er uicht dem Terrorismus seiner Kollegen
erliegen wollte. Weil eine jede unbefleckte, streng rechtliche Existenz eine fort¬
dauernde Bedrohung gegen die ungeheuere Majorität derjenigen war, welche
es mit den Gesetzen der Moral nicht so genau nahmen, so trat die schreckliche
Konsequenz ein, daß auch der Ehrenhafteste, und sei es nur zum Schein, der
allgemeinen Korruption huldigen mußte.

Es ist ein großes Verdienst des jetzigen Kaisers, an den Giftbaum der
Vemntenkorruption, der das ganze Reich zu verderben drohte, die vernichtende
Axt gelegt zu haben, wenn auch hier mehr, als irgendwo in der Welt, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/301>, abgerufen am 26.08.2024.