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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Herz erwärmt hat, während Raffael die kurze Spanne seines Erdenwandels in
ungetrübter Heiterkeit verlebte. Es ist wahrscheinlich, daß Michel Angelo den
glücklichen Jüngling eher mied als aufsuchte, und Raffael wird dein finsteren
Misanthropen seinen Umgang auch nicht aufgedrungen haben, wenngleich er
die Werke des gewaltigen Mannes mit Eifer studirte und seinem mächtigen
Einfluß sich nicht entziehen konnte. Wir haben keine zuverlässigen Nachrichten
über heftige Szenen zwischen den beiden Meistern, wie sie z. B. zwischen
Michel Angelo und Lionardo vorgefallen sind. Wir haben aber auch nicht
das geringste Zeugniß für das Vorhandensein eines freundschaftlichen Verkehrs.
Stumm und verschlossen gingen beide Männer nebeneinander her, bis der Tod
der glänzenden Laufbahn des einen ein vorzeitiges Ziel setzte. Schon aus
diesen äußeren Gründen erscheint es mißlich, die Lebensbeschreibung der beiden
Meister neben einander fortzuführen. Der Zusammenhang ist ein rein äußer¬
licher. Kreuzungspunkte sind gar nicht vorhanden, und ein Berührungspunkt
wird erst gefunden, wenn an den Biographen die Aufgabe herantritt, den Einfluß
Michel Angelo's auf Raffael festzustellen und zu begrenzen. Bei Besprechung
der Teppichkartous hat sich Springer dieser Aufgabe unterzogen und dieselbe
in mustergiltiger Weise gelöst. Auch in seinen letzten Lebensjahren wurde
Raffael durch Michel Angelo nicht veranlaßt, seine Individualität aufzugeben,
sondern er entfaltete dieselbe uur zu vollster Blüthe, indem er Hauptmomente
des michelangeleskeu Stils in sich aufnahm. Von den Figuren auf den
Teppichkartous sagt Springer: "Die Leidenschaft oder Empfindung ist ihr
Lebensprinzip, das von innen aus alle Theile der Gestalt durchdringt und
keine Theilung duldet." Dieses Lebensprinzip, das sich äußerlich in dramati¬
schen Aktionen kundgibt, hat Michel Angelo in die italienische Kunst einge¬
führt. Wie es Raffael zu dem Seinigen machte, so nahm es auch Tizian auf,
besonders als er den Mürtyrertod des heiligen Petrus schuf.

Die feine Abwägung des Wechselverhältnisses zwischen Raffael und Michel
Angelo gehört zu deu glänzendsten Partieen des Springer'schen Buches. Doch
kann diese und manche andere nicht minder glänzende Stelle in uns die Ueber¬
zeugung nicht zurückdrängen, daß der Fluß der biographischen Darstellung ge¬
wonnen hätte, wenn Springer jeden der beiden Meister gesondert behandelt
haben würde. Schon der Unterschied in ihrer Lebensdauer -- Michel Angelo
überlebte Raffael um 44 Jahre -- ist ein gewichtiger Grund gegen eine
parallele Darstellung, wie sie Springer beliebt hat.

Nichtsdestoweniger bezeichnet Springer's Werk einen Markstein in der
kunstgeschichtlichen Forschung, soweit sie sich mit Raffael und Michel Angelo
beschäftigt. In knapper Form, die hie und da sogar knapper geworden ist, als
wünschenswerth war, hat Springer alle Resultate der bisherigen Forschung


Herz erwärmt hat, während Raffael die kurze Spanne seines Erdenwandels in
ungetrübter Heiterkeit verlebte. Es ist wahrscheinlich, daß Michel Angelo den
glücklichen Jüngling eher mied als aufsuchte, und Raffael wird dein finsteren
Misanthropen seinen Umgang auch nicht aufgedrungen haben, wenngleich er
die Werke des gewaltigen Mannes mit Eifer studirte und seinem mächtigen
Einfluß sich nicht entziehen konnte. Wir haben keine zuverlässigen Nachrichten
über heftige Szenen zwischen den beiden Meistern, wie sie z. B. zwischen
Michel Angelo und Lionardo vorgefallen sind. Wir haben aber auch nicht
das geringste Zeugniß für das Vorhandensein eines freundschaftlichen Verkehrs.
Stumm und verschlossen gingen beide Männer nebeneinander her, bis der Tod
der glänzenden Laufbahn des einen ein vorzeitiges Ziel setzte. Schon aus
diesen äußeren Gründen erscheint es mißlich, die Lebensbeschreibung der beiden
Meister neben einander fortzuführen. Der Zusammenhang ist ein rein äußer¬
licher. Kreuzungspunkte sind gar nicht vorhanden, und ein Berührungspunkt
wird erst gefunden, wenn an den Biographen die Aufgabe herantritt, den Einfluß
Michel Angelo's auf Raffael festzustellen und zu begrenzen. Bei Besprechung
der Teppichkartous hat sich Springer dieser Aufgabe unterzogen und dieselbe
in mustergiltiger Weise gelöst. Auch in seinen letzten Lebensjahren wurde
Raffael durch Michel Angelo nicht veranlaßt, seine Individualität aufzugeben,
sondern er entfaltete dieselbe uur zu vollster Blüthe, indem er Hauptmomente
des michelangeleskeu Stils in sich aufnahm. Von den Figuren auf den
Teppichkartous sagt Springer: „Die Leidenschaft oder Empfindung ist ihr
Lebensprinzip, das von innen aus alle Theile der Gestalt durchdringt und
keine Theilung duldet." Dieses Lebensprinzip, das sich äußerlich in dramati¬
schen Aktionen kundgibt, hat Michel Angelo in die italienische Kunst einge¬
führt. Wie es Raffael zu dem Seinigen machte, so nahm es auch Tizian auf,
besonders als er den Mürtyrertod des heiligen Petrus schuf.

Die feine Abwägung des Wechselverhältnisses zwischen Raffael und Michel
Angelo gehört zu deu glänzendsten Partieen des Springer'schen Buches. Doch
kann diese und manche andere nicht minder glänzende Stelle in uns die Ueber¬
zeugung nicht zurückdrängen, daß der Fluß der biographischen Darstellung ge¬
wonnen hätte, wenn Springer jeden der beiden Meister gesondert behandelt
haben würde. Schon der Unterschied in ihrer Lebensdauer — Michel Angelo
überlebte Raffael um 44 Jahre — ist ein gewichtiger Grund gegen eine
parallele Darstellung, wie sie Springer beliebt hat.

Nichtsdestoweniger bezeichnet Springer's Werk einen Markstein in der
kunstgeschichtlichen Forschung, soweit sie sich mit Raffael und Michel Angelo
beschäftigt. In knapper Form, die hie und da sogar knapper geworden ist, als
wünschenswerth war, hat Springer alle Resultate der bisherigen Forschung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/30>, abgerufen am 23.07.2024.