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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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der Senat und der Reichsrath. Der Senat, von Peter I. gegründet, war
die alleinige höchste Behörde, bis Alexander I. am Anfang unseres Jahrhun¬
derts den Reichsrath in's Leben rief und ihm die wichtigsten Funktionen des
Senates gleichzeitig übertrug, so daß dieser heute nur als Obertribunal wirk¬
sam ist. Der Reichsrath wurde von Alexander l. nach dem Muster des von
Napoleon I. gegründeten eonssil ä'neae in's Leben gerufen. Dem Buchstaben
nach ruht in dieser Körperschaft die gesetzgebende Gewalt des Reiches, in Wahr¬
heit hat sie nur eine berathende Stimme, obwohl sie aus den höchsten Würden¬
trägern des Staats zusammengesetzt ist. Ja, nicht selten werden zur Berathung
und Durchführung von Gesetzen auf Befehl des Kaisers Kommissionen gebildet,
die vollkommen unabhängig vom Reichsrath fungiren. Dasselbe gilt von den
zehn Ministern, neben denen noch einige Beamte mit ministeriellen Range für
gewisse Zweige der Staatsverwaltung fungiren. Auch ihnen gebührt nur eine
berathende Stimme.

Neben diesen, nach den Umständen aber auch über ihnen steht das
"Kabinet des Kaisers", in vier Sektionen getheilt, mit deren wichtigster, der
dritten, welche die geheime Polizei umfaßt, wir uns noch eingehender werden
zu beschäftigen haben. Unter jedem Minister arbeitet ein Oberstaatssekretär,
der wieder das ganze Beamtenheer regiert, welches von jedem Ministerium
ressortirt. Schon in der vollkommenen Unabhängigkeit von einander liegt der
Grund, daß die zehn Minister und ihre Räthe durchaus nicht das bilden, was
wir ein Ministerium nennen würden. Wenn sie daher auch seit der Thron¬
besteigung des jetzigen Kaisers zu unbestimmten Zeiten sich zu Berathungen
vereinigen, so werden dieselben offiziell niemals mit dem Titel der parlamen¬
tarischen Versammlungen des Reichsraths oder Senates bezeichnet, sondern es
heißt: "Das Ministersmite hat sich gebildet". Ein solches Komite setzt sich
auch keineswegs aus den Ministern allein zusammen, sondern es nehmen daran
Theil: der Oberreichskontroleur, die Chefs der 2., 3. und 4. Sektion vom
Kabinet des Kaisers und die Vorsitzenden der verschiedenen Abtheilungen des
Reichsraths. Der Präsident des Komite's braucht durchaus kein Minister zu
sein, der Kaiser kommandirt dazu einfach eine ihm geeignet scheinende Persön¬
lichkeit. So fungirte z. B. in letzter Zeit als solche mehrfach der General
Jgnatieff, ein Kousin des oft genannten Diplomaten. Dieser Versammlung
werden nun Vorschläge verschiedenster Art zur Berathung unterbreitet, um sie
für die kaiserliche Entscheidung fertig zu machen. Da aber die Chefs der ver¬
schiedenen Abtheilungen nur dem Kaiser persönlich verantwortlich sind, so dis-
penstren sich diejenigen, welche der kaiserlichen Gunst gewiß zu sein glauben,
häufig von diesem Umwege und wenden sich ohne Wissen oder wider Willen
ihrer Kollegen direkt an die Person des Kaisers.


der Senat und der Reichsrath. Der Senat, von Peter I. gegründet, war
die alleinige höchste Behörde, bis Alexander I. am Anfang unseres Jahrhun¬
derts den Reichsrath in's Leben rief und ihm die wichtigsten Funktionen des
Senates gleichzeitig übertrug, so daß dieser heute nur als Obertribunal wirk¬
sam ist. Der Reichsrath wurde von Alexander l. nach dem Muster des von
Napoleon I. gegründeten eonssil ä'neae in's Leben gerufen. Dem Buchstaben
nach ruht in dieser Körperschaft die gesetzgebende Gewalt des Reiches, in Wahr¬
heit hat sie nur eine berathende Stimme, obwohl sie aus den höchsten Würden¬
trägern des Staats zusammengesetzt ist. Ja, nicht selten werden zur Berathung
und Durchführung von Gesetzen auf Befehl des Kaisers Kommissionen gebildet,
die vollkommen unabhängig vom Reichsrath fungiren. Dasselbe gilt von den
zehn Ministern, neben denen noch einige Beamte mit ministeriellen Range für
gewisse Zweige der Staatsverwaltung fungiren. Auch ihnen gebührt nur eine
berathende Stimme.

Neben diesen, nach den Umständen aber auch über ihnen steht das
„Kabinet des Kaisers", in vier Sektionen getheilt, mit deren wichtigster, der
dritten, welche die geheime Polizei umfaßt, wir uns noch eingehender werden
zu beschäftigen haben. Unter jedem Minister arbeitet ein Oberstaatssekretär,
der wieder das ganze Beamtenheer regiert, welches von jedem Ministerium
ressortirt. Schon in der vollkommenen Unabhängigkeit von einander liegt der
Grund, daß die zehn Minister und ihre Räthe durchaus nicht das bilden, was
wir ein Ministerium nennen würden. Wenn sie daher auch seit der Thron¬
besteigung des jetzigen Kaisers zu unbestimmten Zeiten sich zu Berathungen
vereinigen, so werden dieselben offiziell niemals mit dem Titel der parlamen¬
tarischen Versammlungen des Reichsraths oder Senates bezeichnet, sondern es
heißt: „Das Ministersmite hat sich gebildet". Ein solches Komite setzt sich
auch keineswegs aus den Ministern allein zusammen, sondern es nehmen daran
Theil: der Oberreichskontroleur, die Chefs der 2., 3. und 4. Sektion vom
Kabinet des Kaisers und die Vorsitzenden der verschiedenen Abtheilungen des
Reichsraths. Der Präsident des Komite's braucht durchaus kein Minister zu
sein, der Kaiser kommandirt dazu einfach eine ihm geeignet scheinende Persön¬
lichkeit. So fungirte z. B. in letzter Zeit als solche mehrfach der General
Jgnatieff, ein Kousin des oft genannten Diplomaten. Dieser Versammlung
werden nun Vorschläge verschiedenster Art zur Berathung unterbreitet, um sie
für die kaiserliche Entscheidung fertig zu machen. Da aber die Chefs der ver¬
schiedenen Abtheilungen nur dem Kaiser persönlich verantwortlich sind, so dis-
penstren sich diejenigen, welche der kaiserlichen Gunst gewiß zu sein glauben,
häufig von diesem Umwege und wenden sich ohne Wissen oder wider Willen
ihrer Kollegen direkt an die Person des Kaisers.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/299>, abgerufen am 26.08.2024.