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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Ich weiß es, wie und was es sei
Um ewige Melancholei,
Weil nichts in meinem Herzen
Regiert als bittre Schmerzen.

Tittmann, der Herausgeber der Fleming'schen Gedichte in der bekannten Brock-
haus'schen Sammlung, macht zu dieser Ode die Bemerkung: "Bürger's Lenore
hat dieselbe Strophe. Sollte dies ein zufälliges Zusammentreffen sein? Der
Dichter kannte und schätzte Fleming."

Es wird sich sogleich zeigen, daß es kein zufälliges Zusammentreffen ist,
wenn auch nicht in dem Sinne, wie Tittmann es meint. Es ist nämlich noch
ein Dritter zu nennen, bei dem die Bürger'sche Strophe vor Bürger vorkommt,
und der sie recht wohl bei Fleming kennen gelernt haben könnte. Er würde
dann auch in dieser unbedeutenden Aeußerlichkeit zwischen Fleming und Bürger
stehen, wie er in seiner ganzen dichterischen Erscheinung diese geschichtliche
Stellung einnimmt, denn eine aufsteigende Linie poetischer Kraft und indivi¬
dueller Bedeutung führt von Fleming über Günther zu Bürger. Johann
Christian Günther (1695--1723) ließe sich mit gutem Recht als der "Bürger"
seiner Zeit bezeichnen, er ist Bürger fo kunst- und naturellverwandt, daß
Goethe's berühmtes Urtheil über ihn (in "Dichtung und Wahrheit") kaum irgend¬
wie verändert zu werden brauchte, um auch für Bürger zu gelten: "Ein ent¬
schiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtniß, Gabe
des Fassens und Vergegenwärtigend fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch
bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet: genug, er besaß alles,
was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen,
und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben----Er wußte sich nicht zu zähmen,
und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten." Bei Günther nun -- er
wurde in den mittleren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts viel gelesen, und
noch 1764 erschien eine sechste Auflage seiner Gedichte -- findet sich die
Lenoren-Strophe in einem wunderbar schönen elegischen Gedichte, und zwar ist
es nicht nur die Kongruenz in Strophenbau, Versbildung und Reimstellung,
sondern selbst in Ton und Stimmung, die uns fühlbar entgegentritt. Das
betreffende Gedicht ist ein psychologisch merkwürdiger, in seinen thatsächlichen
Voraussetzungen nicht hinlänglich aufgeklärter poetischer Absage-, oder besser Ent¬
sagebrief an die Geliebte. Die vorletzte Strophe, die wir als Probe geben, lautet:


So brich nur Bild und Ring entzwei
Und laß die Briefe lodern.
Ich gebe dich dem Ersten frei
Und habe nichts zu fodern;
Es küsse dich ein andrer Mann,
Der zwar nicht treuer küssen kann,
Jedoch mit größerm Glücke
Dein würdig Brautkleid schmücke.

Ich weiß es, wie und was es sei
Um ewige Melancholei,
Weil nichts in meinem Herzen
Regiert als bittre Schmerzen.

Tittmann, der Herausgeber der Fleming'schen Gedichte in der bekannten Brock-
haus'schen Sammlung, macht zu dieser Ode die Bemerkung: „Bürger's Lenore
hat dieselbe Strophe. Sollte dies ein zufälliges Zusammentreffen sein? Der
Dichter kannte und schätzte Fleming."

Es wird sich sogleich zeigen, daß es kein zufälliges Zusammentreffen ist,
wenn auch nicht in dem Sinne, wie Tittmann es meint. Es ist nämlich noch
ein Dritter zu nennen, bei dem die Bürger'sche Strophe vor Bürger vorkommt,
und der sie recht wohl bei Fleming kennen gelernt haben könnte. Er würde
dann auch in dieser unbedeutenden Aeußerlichkeit zwischen Fleming und Bürger
stehen, wie er in seiner ganzen dichterischen Erscheinung diese geschichtliche
Stellung einnimmt, denn eine aufsteigende Linie poetischer Kraft und indivi¬
dueller Bedeutung führt von Fleming über Günther zu Bürger. Johann
Christian Günther (1695—1723) ließe sich mit gutem Recht als der „Bürger"
seiner Zeit bezeichnen, er ist Bürger fo kunst- und naturellverwandt, daß
Goethe's berühmtes Urtheil über ihn (in „Dichtung und Wahrheit") kaum irgend¬
wie verändert zu werden brauchte, um auch für Bürger zu gelten: „Ein ent¬
schiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtniß, Gabe
des Fassens und Vergegenwärtigend fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch
bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet: genug, er besaß alles,
was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen,
und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben----Er wußte sich nicht zu zähmen,
und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten." Bei Günther nun — er
wurde in den mittleren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts viel gelesen, und
noch 1764 erschien eine sechste Auflage seiner Gedichte — findet sich die
Lenoren-Strophe in einem wunderbar schönen elegischen Gedichte, und zwar ist
es nicht nur die Kongruenz in Strophenbau, Versbildung und Reimstellung,
sondern selbst in Ton und Stimmung, die uns fühlbar entgegentritt. Das
betreffende Gedicht ist ein psychologisch merkwürdiger, in seinen thatsächlichen
Voraussetzungen nicht hinlänglich aufgeklärter poetischer Absage-, oder besser Ent¬
sagebrief an die Geliebte. Die vorletzte Strophe, die wir als Probe geben, lautet:


So brich nur Bild und Ring entzwei
Und laß die Briefe lodern.
Ich gebe dich dem Ersten frei
Und habe nichts zu fodern;
Es küsse dich ein andrer Mann,
Der zwar nicht treuer küssen kann,
Jedoch mit größerm Glücke
Dein würdig Brautkleid schmücke.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/287>, abgerufen am 23.07.2024.