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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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ver Dichter sie nicht erfand, sondern daß in ihnen persönliche Lebensbeziehungen
still verewigt, oder literarische Sympathieen angedeutet sind. Zu welcher
Kategorie würde dann der Name von Bürger's Lenore gehören? Hat nur die
ästhetische Klangwirkung, das Kolorit des Wortes ihn wählen, ihn nothwendig
erscheinen lassen? Denn gewiß, es würde nicht leicht ein anderer von gleicher
Angemessenheit des klanglichen Effektes genannt werden können.

Mit der Sage selbst und den Sagenliedern von der gespenstischen Wieder¬
belebung Gestorbener durch die Klagen der Liebenden ist der Name Lenore
nicht überliefert. Es könnte übrigens für Bürger von allem, was zu diesem
Sagenkreise gehört, außer dem deutscheu Volksliedfragment, von dem er selbst
spricht, und das keinen Namen hat, lediglich die ihm aus Percy's Sammlung
bekannte altschottische Ballade "Luvest ^VMgm'L Anost" in Betracht kommen
("Es kam ein Geist vor Margret's Thür mit Stöhnen und mit Schreien").
Aus ihr behielt Bürger offenbar den Namen des Verlobten, Wilhelm, bei;
Margarete aber hat er durch Lenore ersetzt.

Nicht am Stoffe also haftete der Name, wohl aber, wie sich nachweisen
läßt, an -- der Form des Bürger'schen Gedichtes. Denn diese ist nicht, wie
vielfach angenommen wird, von Bürger geschaffen, so innig zusammenstimmend
auch der Geist dieser ergreifenden Lenoren-Strophe mit dem erzählten Vorgange
sein mag. Wer sie erfunden hat, ist schwer zu sagen, vielleicht ist es überhaupt
unbekannt. Sie findet sich aber schon bei Johann Rist (1607 -- 1667). "Oft
kann", sagt C. Lemcke in seiner geiht- und kenntnißreichen und lange nicht nach
Gebühr gewürdigten ,Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit^, "seine Ge¬
läufigkeit in Vers und Reim an Bürger erinnern", und er führt zum Belege
dafür folgende Rist'sche Strophe an:


Kein größer Narr ist weit und breit
In dieser Welt zu finden,
Als der durch Weiber Freundlichkeit
Sich gar läßt überwinden.
So daß er bloßen Worten traut
Und nicht auf ihre Falschheit schaut;
Der wird nach wenig Tagen
Sein Elend sehr beklagen.

Auch unser bester Lyriker im siebzehnten Jahrhundert, Paul Fleming (1609 bis
1640) hat die Lenoren-Strophe in seiner leider unsäglich langen -- Abschiedsode
an die "baltischen Sirenen". Als Probe möge wenigstens die zweite Strophe
hier angeführt sein:


Seit daß ich euer bin beraubt,
Ihr Schönsten auf der Erden,
Ist mir ganz keine Lust erlaubt,
Ich kann nicht fröhlich werden.

ver Dichter sie nicht erfand, sondern daß in ihnen persönliche Lebensbeziehungen
still verewigt, oder literarische Sympathieen angedeutet sind. Zu welcher
Kategorie würde dann der Name von Bürger's Lenore gehören? Hat nur die
ästhetische Klangwirkung, das Kolorit des Wortes ihn wählen, ihn nothwendig
erscheinen lassen? Denn gewiß, es würde nicht leicht ein anderer von gleicher
Angemessenheit des klanglichen Effektes genannt werden können.

Mit der Sage selbst und den Sagenliedern von der gespenstischen Wieder¬
belebung Gestorbener durch die Klagen der Liebenden ist der Name Lenore
nicht überliefert. Es könnte übrigens für Bürger von allem, was zu diesem
Sagenkreise gehört, außer dem deutscheu Volksliedfragment, von dem er selbst
spricht, und das keinen Namen hat, lediglich die ihm aus Percy's Sammlung
bekannte altschottische Ballade „Luvest ^VMgm'L Anost" in Betracht kommen
(„Es kam ein Geist vor Margret's Thür mit Stöhnen und mit Schreien").
Aus ihr behielt Bürger offenbar den Namen des Verlobten, Wilhelm, bei;
Margarete aber hat er durch Lenore ersetzt.

Nicht am Stoffe also haftete der Name, wohl aber, wie sich nachweisen
läßt, an — der Form des Bürger'schen Gedichtes. Denn diese ist nicht, wie
vielfach angenommen wird, von Bürger geschaffen, so innig zusammenstimmend
auch der Geist dieser ergreifenden Lenoren-Strophe mit dem erzählten Vorgange
sein mag. Wer sie erfunden hat, ist schwer zu sagen, vielleicht ist es überhaupt
unbekannt. Sie findet sich aber schon bei Johann Rist (1607 — 1667). „Oft
kann", sagt C. Lemcke in seiner geiht- und kenntnißreichen und lange nicht nach
Gebühr gewürdigten ,Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit^, „seine Ge¬
läufigkeit in Vers und Reim an Bürger erinnern", und er führt zum Belege
dafür folgende Rist'sche Strophe an:


Kein größer Narr ist weit und breit
In dieser Welt zu finden,
Als der durch Weiber Freundlichkeit
Sich gar läßt überwinden.
So daß er bloßen Worten traut
Und nicht auf ihre Falschheit schaut;
Der wird nach wenig Tagen
Sein Elend sehr beklagen.

Auch unser bester Lyriker im siebzehnten Jahrhundert, Paul Fleming (1609 bis
1640) hat die Lenoren-Strophe in seiner leider unsäglich langen — Abschiedsode
an die „baltischen Sirenen". Als Probe möge wenigstens die zweite Strophe
hier angeführt sein:


Seit daß ich euer bin beraubt,
Ihr Schönsten auf der Erden,
Ist mir ganz keine Lust erlaubt,
Ich kann nicht fröhlich werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/286>, abgerufen am 23.07.2024.