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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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bearbeitung der spanischen Cid-Romanzen gedichtet ist, die Herder in der Livlio-
tköqus universelle ass RoinaQs vom Jahre 1783 vorfand. Hettner hat denn
auch 1869 in seiner "Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts" am Schlüsse
seiner, man darf wohl sagen bahnbrechenden Charakteristik Herder's die Köhler'sche
Entdeckung bereits xure aufgenommen; in die Einleitung der 1869 bei Grote
erschienenen illustrirten Eid-Ausgabe ist sie ebenfalls übergegangen, und selbst
in einem Schulbuche wie Kluge's "Leitfaden der deutschen Literaturgeschichte"
hat sie schon ihren Platz gefunden. Da erscheint im neuesten Bande der (übrigens
im Grunde recht überflüssigen und zum guten Theile auf bloße Buchmacherei
hinauslaufenden) Biographieensammlung, die R. v. Gottschall seit einigen Jahren
unter dem anmuthig archaisirenden Titel "Der neue Plutarch" herausgibt, eine
Biographie Herder's von Friedrich von Bärenbach,*) und da steht richtig wieder
zu lesen: "Eine früh gefaßte Vorliebe für die Meisterwerke der spanischen
Literatur veranlaßte Herder im Winter 1802--3 den "Eid" zu übersetzen, in
dessen Geist er sich so sehr hineingelebt hatte, daß ein beträchtlicher Theil der
Romanzen nach der poetischen Durchführung als sein geistiges Eigenthum er¬
scheint." Beiläufig: Was der letzte Satz bedeuten soll, ist völlig dunkel; man
kann ihn fünf Minuten lang begucken, vorwärts und rückwärts, Sinn bekommt
er keinen. Wenn es hieße: "Herder hatte sich so in den Geist seines Vorbildes
eingelebt, daß selbst die frei von ihm erfundenen Partieen den Stempel des
Originals tragen", das würde man verstehen. Wollte der Verfasser vielleicht
so etwas ähnliches sagen? Dann wäre der Gedanke wenigstens so unklar als
möglich ausgedrückt. Doch wie gesagt, dies beiläufig. Die Hauptsache ist, daß
dieser neueste "Biograph" Herder's noch immer zu glauben scheint, daß Herder
seinen "Eid" direkt nach den spanischen Originalen gearbeitet habe, was doch
sicherlich nur bei dem kleinsten Theile der Fall ist.

In Wahrheit verhalten sich, wie Köhler nachgewiesen, die Dinge folgender¬
maßen. Von den 70 Romanzen, aus denen Herder's "Eid" besteht, sind 56 nach
der von einem unbekannten Verfasser stammenden modernen französischen Prosa¬
bearbeitung gedichtet, welche in der von 1775 bis 1789 erschienenen ZZivlio-
tlie-zue universelle ach Koinans in den Jahrgängen 1782--1784 veröffentlicht
worden war, und auf welche Herder durch einen Aufsatz im "Teutschen Merkur"
vom Februar 1792 aufmerksam wurde. Die übrigen 14 Romanzen, und zwar
die Nummern 54--61, 64--66 und 68--70 sind ohne die französische Quelle
gedichtet und schließen sich direkt an spanische Originale an. Und zwar waltet
hier wieder der Unterschied, daß fünf von den vierzehn, nämlich die Nummern



*) Der neue Plutarch, Herausgegeben von Rudolf von Gottschall. Sechster Theil.
Leipzig, Brockhaus, 1879.

bearbeitung der spanischen Cid-Romanzen gedichtet ist, die Herder in der Livlio-
tköqus universelle ass RoinaQs vom Jahre 1783 vorfand. Hettner hat denn
auch 1869 in seiner „Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts" am Schlüsse
seiner, man darf wohl sagen bahnbrechenden Charakteristik Herder's die Köhler'sche
Entdeckung bereits xure aufgenommen; in die Einleitung der 1869 bei Grote
erschienenen illustrirten Eid-Ausgabe ist sie ebenfalls übergegangen, und selbst
in einem Schulbuche wie Kluge's „Leitfaden der deutschen Literaturgeschichte"
hat sie schon ihren Platz gefunden. Da erscheint im neuesten Bande der (übrigens
im Grunde recht überflüssigen und zum guten Theile auf bloße Buchmacherei
hinauslaufenden) Biographieensammlung, die R. v. Gottschall seit einigen Jahren
unter dem anmuthig archaisirenden Titel „Der neue Plutarch" herausgibt, eine
Biographie Herder's von Friedrich von Bärenbach,*) und da steht richtig wieder
zu lesen: „Eine früh gefaßte Vorliebe für die Meisterwerke der spanischen
Literatur veranlaßte Herder im Winter 1802—3 den „Eid" zu übersetzen, in
dessen Geist er sich so sehr hineingelebt hatte, daß ein beträchtlicher Theil der
Romanzen nach der poetischen Durchführung als sein geistiges Eigenthum er¬
scheint." Beiläufig: Was der letzte Satz bedeuten soll, ist völlig dunkel; man
kann ihn fünf Minuten lang begucken, vorwärts und rückwärts, Sinn bekommt
er keinen. Wenn es hieße: „Herder hatte sich so in den Geist seines Vorbildes
eingelebt, daß selbst die frei von ihm erfundenen Partieen den Stempel des
Originals tragen", das würde man verstehen. Wollte der Verfasser vielleicht
so etwas ähnliches sagen? Dann wäre der Gedanke wenigstens so unklar als
möglich ausgedrückt. Doch wie gesagt, dies beiläufig. Die Hauptsache ist, daß
dieser neueste „Biograph" Herder's noch immer zu glauben scheint, daß Herder
seinen „Eid" direkt nach den spanischen Originalen gearbeitet habe, was doch
sicherlich nur bei dem kleinsten Theile der Fall ist.

In Wahrheit verhalten sich, wie Köhler nachgewiesen, die Dinge folgender¬
maßen. Von den 70 Romanzen, aus denen Herder's „Eid" besteht, sind 56 nach
der von einem unbekannten Verfasser stammenden modernen französischen Prosa¬
bearbeitung gedichtet, welche in der von 1775 bis 1789 erschienenen ZZivlio-
tlie-zue universelle ach Koinans in den Jahrgängen 1782—1784 veröffentlicht
worden war, und auf welche Herder durch einen Aufsatz im „Teutschen Merkur"
vom Februar 1792 aufmerksam wurde. Die übrigen 14 Romanzen, und zwar
die Nummern 54—61, 64—66 und 68—70 sind ohne die französische Quelle
gedichtet und schließen sich direkt an spanische Originale an. Und zwar waltet
hier wieder der Unterschied, daß fünf von den vierzehn, nämlich die Nummern



*) Der neue Plutarch, Herausgegeben von Rudolf von Gottschall. Sechster Theil.
Leipzig, Brockhaus, 1879.
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[0282] bearbeitung der spanischen Cid-Romanzen gedichtet ist, die Herder in der Livlio- tköqus universelle ass RoinaQs vom Jahre 1783 vorfand. Hettner hat denn auch 1869 in seiner „Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts" am Schlüsse seiner, man darf wohl sagen bahnbrechenden Charakteristik Herder's die Köhler'sche Entdeckung bereits xure aufgenommen; in die Einleitung der 1869 bei Grote erschienenen illustrirten Eid-Ausgabe ist sie ebenfalls übergegangen, und selbst in einem Schulbuche wie Kluge's „Leitfaden der deutschen Literaturgeschichte" hat sie schon ihren Platz gefunden. Da erscheint im neuesten Bande der (übrigens im Grunde recht überflüssigen und zum guten Theile auf bloße Buchmacherei hinauslaufenden) Biographieensammlung, die R. v. Gottschall seit einigen Jahren unter dem anmuthig archaisirenden Titel „Der neue Plutarch" herausgibt, eine Biographie Herder's von Friedrich von Bärenbach,*) und da steht richtig wieder zu lesen: „Eine früh gefaßte Vorliebe für die Meisterwerke der spanischen Literatur veranlaßte Herder im Winter 1802—3 den „Eid" zu übersetzen, in dessen Geist er sich so sehr hineingelebt hatte, daß ein beträchtlicher Theil der Romanzen nach der poetischen Durchführung als sein geistiges Eigenthum er¬ scheint." Beiläufig: Was der letzte Satz bedeuten soll, ist völlig dunkel; man kann ihn fünf Minuten lang begucken, vorwärts und rückwärts, Sinn bekommt er keinen. Wenn es hieße: „Herder hatte sich so in den Geist seines Vorbildes eingelebt, daß selbst die frei von ihm erfundenen Partieen den Stempel des Originals tragen", das würde man verstehen. Wollte der Verfasser vielleicht so etwas ähnliches sagen? Dann wäre der Gedanke wenigstens so unklar als möglich ausgedrückt. Doch wie gesagt, dies beiläufig. Die Hauptsache ist, daß dieser neueste „Biograph" Herder's noch immer zu glauben scheint, daß Herder seinen „Eid" direkt nach den spanischen Originalen gearbeitet habe, was doch sicherlich nur bei dem kleinsten Theile der Fall ist. In Wahrheit verhalten sich, wie Köhler nachgewiesen, die Dinge folgender¬ maßen. Von den 70 Romanzen, aus denen Herder's „Eid" besteht, sind 56 nach der von einem unbekannten Verfasser stammenden modernen französischen Prosa¬ bearbeitung gedichtet, welche in der von 1775 bis 1789 erschienenen ZZivlio- tlie-zue universelle ach Koinans in den Jahrgängen 1782—1784 veröffentlicht worden war, und auf welche Herder durch einen Aufsatz im „Teutschen Merkur" vom Februar 1792 aufmerksam wurde. Die übrigen 14 Romanzen, und zwar die Nummern 54—61, 64—66 und 68—70 sind ohne die französische Quelle gedichtet und schließen sich direkt an spanische Originale an. Und zwar waltet hier wieder der Unterschied, daß fünf von den vierzehn, nämlich die Nummern *) Der neue Plutarch, Herausgegeben von Rudolf von Gottschall. Sechster Theil. Leipzig, Brockhaus, 1879.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/282>, abgerufen am 23.07.2024.