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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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und Disziplin auf alle zu erstrecken, doch nicht die wesentlichen Züge des
deutschen Volkscharakters in sich vereine. Diese findet Reclus vielmehr bei
den Bewohnern von Mittel- und Westdeutschland am besten ausgeprägt, bei
den Thüringern, Franken, Rheinländern und bei den Schwaben, von deren
Land er nicht unterläßt, hervorzuheben, wie fruchtbar es an geistigen Größen
gewesen ist.

Was die Schätzung des geistigen und moralischen Werthes des deutschen
Volkes betrifft, so findet Reclus, daß hierin die deutschen Schriftsteller selbst im
Ueberschätzen wie im Unterschätzen zuweit gingen, und glaubt ihnen darin nicht
ohne weiteres folgen zu dürfen. Die einen, meint er, preisen in dem Streben,
die "große Nation" herabzusetzen, ihre eigene als ein Wesen höherer Organi¬
sation, als Inbegriff aller Tugenden, als Vertreter alles Guten und Edlen auf
der Welt, als allein befähigt, zu denken und das Licht der Aufklärung zu ver¬
breiten, indem sie das Wort "Deutsch" als den Inhalt alles Edlen und Wahren
dem Begriffe "Französisch" oder "Wälsch" als dem Prototyp alles unechten, un-
lautern Wesens gegenüberstellen. Ebensowenig aber will er sich den Schmähern
des deutschen Volkes anschließen, mögen es nun Deutsche sein oder haßerfüllte
Ausländer, und zwar nach dem Grundsatze, daß jedes Volk, wenn man es ein¬
seitig nach seinen Leidenschaften betrachten wollte, eine ungünstige Beurtheilung
erfahren müsse; auch dürfe man nicht -- davon spricht er an einer anderen
Stelle -- hinsichtlich der Sittlichkeit eines Volkes die großen Städte zum Ma߬
stab nehmen, deren vielfach veränderte Verhältnisse nnr ein schiefes Bild geben
würden. Bei der Beurtheilung des Durchschnittswerthes eines Volkes müsse
man diejenigen Persönlichkeiten zum Maßstab nehmen, die, über die Mittel¬
mäßigkeit hinausragend, im Stande waren, die in ihnen schlummernden Anlagen
zu entfalten und Vorzüge zu zeigen, die in den anderen wohl vorhanden, aber
nicht zu gedeihlicher Entwickelung gelangt sind. Von diesem Standpunkte spricht
er unserem Volke einen tiefen Natursinn zu, eine seltene dichterische Begabung,
große Willenskraft, starke Ansdauer, warme Hingabe an eine einmal unter¬
nommene Sache, doch neige sich der deutsche Nationalcharakter andererseits
leicht zu Extremen, zu Mystizismus, Gefühlsschwärmerei, steifer Etiquette, Hoch¬
muth, Verbitterung und andauerndem Groll. Trotz seiner bedeutenden Willensstärke,
seiner Zähigkeit und Kraft sei der Deutsche in geringerem Maße eine fest aus¬
geprägte Persönlichkeit als der Franzose und Italiener, denen man doch sonst
leichte Erregbarkeit und große Eindrucksfähigkeit zuschreibe. Denn der Deutsche
lasse sich in seinen Meinungen leicht beeinflussen und verändere unter neuen
Verhältnissen seine ursprüngliche Art; deshalb liege bei ihm die Gefahr, unter
einer starren Disziplin einen Theil seiner guten Eigenschaften einzubüßen, be¬
sonders nahe. Hier dürste namentlich der Vorwurf, daß uns eine feste, nach


und Disziplin auf alle zu erstrecken, doch nicht die wesentlichen Züge des
deutschen Volkscharakters in sich vereine. Diese findet Reclus vielmehr bei
den Bewohnern von Mittel- und Westdeutschland am besten ausgeprägt, bei
den Thüringern, Franken, Rheinländern und bei den Schwaben, von deren
Land er nicht unterläßt, hervorzuheben, wie fruchtbar es an geistigen Größen
gewesen ist.

Was die Schätzung des geistigen und moralischen Werthes des deutschen
Volkes betrifft, so findet Reclus, daß hierin die deutschen Schriftsteller selbst im
Ueberschätzen wie im Unterschätzen zuweit gingen, und glaubt ihnen darin nicht
ohne weiteres folgen zu dürfen. Die einen, meint er, preisen in dem Streben,
die „große Nation" herabzusetzen, ihre eigene als ein Wesen höherer Organi¬
sation, als Inbegriff aller Tugenden, als Vertreter alles Guten und Edlen auf
der Welt, als allein befähigt, zu denken und das Licht der Aufklärung zu ver¬
breiten, indem sie das Wort „Deutsch" als den Inhalt alles Edlen und Wahren
dem Begriffe „Französisch" oder „Wälsch" als dem Prototyp alles unechten, un-
lautern Wesens gegenüberstellen. Ebensowenig aber will er sich den Schmähern
des deutschen Volkes anschließen, mögen es nun Deutsche sein oder haßerfüllte
Ausländer, und zwar nach dem Grundsatze, daß jedes Volk, wenn man es ein¬
seitig nach seinen Leidenschaften betrachten wollte, eine ungünstige Beurtheilung
erfahren müsse; auch dürfe man nicht — davon spricht er an einer anderen
Stelle — hinsichtlich der Sittlichkeit eines Volkes die großen Städte zum Ma߬
stab nehmen, deren vielfach veränderte Verhältnisse nnr ein schiefes Bild geben
würden. Bei der Beurtheilung des Durchschnittswerthes eines Volkes müsse
man diejenigen Persönlichkeiten zum Maßstab nehmen, die, über die Mittel¬
mäßigkeit hinausragend, im Stande waren, die in ihnen schlummernden Anlagen
zu entfalten und Vorzüge zu zeigen, die in den anderen wohl vorhanden, aber
nicht zu gedeihlicher Entwickelung gelangt sind. Von diesem Standpunkte spricht
er unserem Volke einen tiefen Natursinn zu, eine seltene dichterische Begabung,
große Willenskraft, starke Ansdauer, warme Hingabe an eine einmal unter¬
nommene Sache, doch neige sich der deutsche Nationalcharakter andererseits
leicht zu Extremen, zu Mystizismus, Gefühlsschwärmerei, steifer Etiquette, Hoch¬
muth, Verbitterung und andauerndem Groll. Trotz seiner bedeutenden Willensstärke,
seiner Zähigkeit und Kraft sei der Deutsche in geringerem Maße eine fest aus¬
geprägte Persönlichkeit als der Franzose und Italiener, denen man doch sonst
leichte Erregbarkeit und große Eindrucksfähigkeit zuschreibe. Denn der Deutsche
lasse sich in seinen Meinungen leicht beeinflussen und verändere unter neuen
Verhältnissen seine ursprüngliche Art; deshalb liege bei ihm die Gefahr, unter
einer starren Disziplin einen Theil seiner guten Eigenschaften einzubüßen, be¬
sonders nahe. Hier dürste namentlich der Vorwurf, daß uns eine feste, nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/273>, abgerufen am 23.07.2024.