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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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durcheinander. Beiläufig sind dergleichen milde Stiftungen als Mittel, sich in
die allerhöchste Erinnerung zurückzurufen, sehr modern. Keine Angelegenheit
ist so klein oder so groß, um dem freien Willen, der Anordnung einer Behörde
oder Person selbständig überlassen zu werden. Unter Nikolaus war das, wie
gesagt, noch schlimmer. Kein Schulhaus wurde gebaut, keine Kirche, Kapelle
oder Votivtafel errichtet, zu der nicht das Modell aus Petersburg geliefert
wurde. Am liebsten hätte man selbst Denkmäler und Statuen nach Fabrik¬
modell in Petersburg gefertigt. Unter Nikolaus gab es für jede Klasse von
Gebäuden drei oder vier Modelle, eines davon mußte jeder Erbauer wählen.
H. v. Molinari gibt hierüber in seinen "Briefen aus Rußland", 1860 bei
Gelegenheit der Aufhebung der Leibeigenschaft geschrieben, allerlei ergötzliche
Details.

Forscht man nach dem Grnnde dieser außerordentlichen Erscheinung, so
gewahrt man bald die zwingende Nothwendigkeit solcher Anordnungen. Während
Westeuropa's Völker von innen heraus, von unten herauf in organischer
Gliederung gewachsen sind, waren Rußland's Herrscher, seit sie den Wegen
Peter's I. folgten, einer tabula inZa, gegenüber. Keine Bedingung der Zivi¬
lisation Westeuropa's fanden sie in der Volksentwickelung vor. Vor allem
war kein Material da, um Werkzeuge daraus zu schmieden. Keine Klasse des
Volkes war im Stande, brauchbare Beamte zu liefern, und auch heute noch
sind es immer nur Bruchtheile der an Zahl geringsten höheren Klassen, trotz
der Arbeit von zweihundert Jahren. So langsam nur läßt die Entwickelung
eines Volkes sich in andere als die natürlichen Bahnen lenken. Vielleicht wäre
es richtiger gewesen, die alte nationale Einrichtung der Wojewoden weiter zu
entwickeln und auf diesem Grunde fortzubauen. Wer will das heute ent¬
scheiden, oder Peter I. und seiner genialen Frau und Tochter einen Vorwurf
machen, daß sie es nicht versuchten? Ist nicht möglicherweise die wunderbar
gleichmäßige Bodenbeschaffenheit des großen Reiches, das fast mit allen seinen
Dependenzen der Tiefebnenformation angehört und so gut wie gar keine
orographisch gegliederten Provinzen zeigt, eine stumme, aber unwiderstehliche
Triebfeder dieser Zentralisation geworden?

Wie in vielen Beziehungen, so kontrastirt auch hierin das große russische
Reich mit seinem Antagonisten, der Türkei. Nun sollte man denken, daß die
unendliche Zahl; der Völkerstämme, die das große Reich bilden, in sich selbst
ein Heilmittel gegen diese alles verschlingende, jede eigenartige Entwickelung
tödtende Gleichmäßigkeit bieten mußte. Aber hier trügt der Schein. Sieht
man ab von den doch nur äußerlich anerzogenen Unterschieden der religiösen
und kulturellen Entwickelung, so wird man im Grunde eine große Gleich¬
förmigkeit im Charakter aller der Bewohner jener ungeheuren Tiefebene finden.


durcheinander. Beiläufig sind dergleichen milde Stiftungen als Mittel, sich in
die allerhöchste Erinnerung zurückzurufen, sehr modern. Keine Angelegenheit
ist so klein oder so groß, um dem freien Willen, der Anordnung einer Behörde
oder Person selbständig überlassen zu werden. Unter Nikolaus war das, wie
gesagt, noch schlimmer. Kein Schulhaus wurde gebaut, keine Kirche, Kapelle
oder Votivtafel errichtet, zu der nicht das Modell aus Petersburg geliefert
wurde. Am liebsten hätte man selbst Denkmäler und Statuen nach Fabrik¬
modell in Petersburg gefertigt. Unter Nikolaus gab es für jede Klasse von
Gebäuden drei oder vier Modelle, eines davon mußte jeder Erbauer wählen.
H. v. Molinari gibt hierüber in seinen „Briefen aus Rußland", 1860 bei
Gelegenheit der Aufhebung der Leibeigenschaft geschrieben, allerlei ergötzliche
Details.

Forscht man nach dem Grnnde dieser außerordentlichen Erscheinung, so
gewahrt man bald die zwingende Nothwendigkeit solcher Anordnungen. Während
Westeuropa's Völker von innen heraus, von unten herauf in organischer
Gliederung gewachsen sind, waren Rußland's Herrscher, seit sie den Wegen
Peter's I. folgten, einer tabula inZa, gegenüber. Keine Bedingung der Zivi¬
lisation Westeuropa's fanden sie in der Volksentwickelung vor. Vor allem
war kein Material da, um Werkzeuge daraus zu schmieden. Keine Klasse des
Volkes war im Stande, brauchbare Beamte zu liefern, und auch heute noch
sind es immer nur Bruchtheile der an Zahl geringsten höheren Klassen, trotz
der Arbeit von zweihundert Jahren. So langsam nur läßt die Entwickelung
eines Volkes sich in andere als die natürlichen Bahnen lenken. Vielleicht wäre
es richtiger gewesen, die alte nationale Einrichtung der Wojewoden weiter zu
entwickeln und auf diesem Grunde fortzubauen. Wer will das heute ent¬
scheiden, oder Peter I. und seiner genialen Frau und Tochter einen Vorwurf
machen, daß sie es nicht versuchten? Ist nicht möglicherweise die wunderbar
gleichmäßige Bodenbeschaffenheit des großen Reiches, das fast mit allen seinen
Dependenzen der Tiefebnenformation angehört und so gut wie gar keine
orographisch gegliederten Provinzen zeigt, eine stumme, aber unwiderstehliche
Triebfeder dieser Zentralisation geworden?

Wie in vielen Beziehungen, so kontrastirt auch hierin das große russische
Reich mit seinem Antagonisten, der Türkei. Nun sollte man denken, daß die
unendliche Zahl; der Völkerstämme, die das große Reich bilden, in sich selbst
ein Heilmittel gegen diese alles verschlingende, jede eigenartige Entwickelung
tödtende Gleichmäßigkeit bieten mußte. Aber hier trügt der Schein. Sieht
man ab von den doch nur äußerlich anerzogenen Unterschieden der religiösen
und kulturellen Entwickelung, so wird man im Grunde eine große Gleich¬
förmigkeit im Charakter aller der Bewohner jener ungeheuren Tiefebene finden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/267>, abgerufen am 24.07.2024.