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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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war, die letzten Spuren der einst kräftigen Autonomie einzelner Stämme
im Blute der Parteien erstickte. Damals vollzog sich in Rußland derselbe
Prozeß, wie einst in Frankreich unter Chlodwig, dann unter Ludwig XI.,
später unter Richelieu: Zentralisation unter absoluter Herrschaft, ein Zustand,
dem das alte deutsche Kaiserreich entging durch der einzelnen Stämme macht¬
volle Eigenart, ob zum Segen oder Unsegen seiner heutigen Fortentwickelung,
wer kann es sagen? "Von Peru nach Tauris, vom finnischen eisesklaren
Frost zum flcunmenheißen Kolchis, von des Kreml erschütterten Wall bis hin
nach China's ewig ragender Mauer" -- so singt Puschkin, Rußland's Byron --
"laufen alle Fäden des vielzungigen Riesenstaates in eine Hand, die des weißen
Czaren an des Reiches äußerstem Ostrand." Kleine Bruchstücke, wie der Kau¬
kasus, die Ostseeprovinzen, Finnland, die neueroberten Oasen der Turkomannen-
lande haben eine Art Autonomie aus verschiedenen Gründen und von gleich
geringer Art, auch scheint sie keine Dauer zu versprechen. Weder die Entfer¬
nung, noch die geschichtliche Entwickelung, noch verzweifelnngsvoller Widerstand,
wie der Polen Jahrhunderte lange Kämpfe, haben das Schicksal geändert. Un¬
erbittlich wird Alles unterworfen -- dem Petersburger Beamtenthum.

Darüber kann keine Täuschung walten: viel weniger der Czar, als die
Bureaukratie ist der eigentliche Herrscher des Landes, und sie war es in noch
viel höherem Maße unter Nikolaus, der sich einbildete, der allmächtige Herrscher
zu sein. Wohl haben die Reformen des jetzigen Kaisers weite Breschen in diese
Bureaukratenherrschaft gelegt, aber noch steht sie sest und unerschüttert und
wird noch manches Menschenalter überdauern, weil sie -- ein nothwendiges
Uebel ist. Bei ihrer gewaltsamen Vernichtung würde das Reich unausbleiblich
eine Beute der Anarchie werden. Jetzt noch gipfelt Alles und Jedes in dem
scheinbar unumgänglich nöthigen Entschluß des Kaisers. Die offiziellen Jour¬
nale bringen jede Woche bunt durcheinander die wichtigsten und nichtigsten
Kabinetsordres. Weil Alles durch diese erst in die Wirklichkeit tritt, erscheint
auch Alles gleich wichtig. Nichts darf die Regierung übersehen, Nichts darf
ihr entgehen. Das macht dem ungewohnten Auge des Fremden denn oftmals
einen gar scurrilen Eindruck. "Seine Majestät haben geruht, die Errichtung
von 4 Betten im Greisenhospital von Nisney-Nowgorod Seitens der Wittwe
des hochseligen Steuerrathes Deuckselinski allerhöchst zu genehmigen. Seine
Majestät haben geruht, deu Abmarsch vom 3., 4. und 6. Armeekorps nach dem
Kriegsschauplatz anzuordnen. Seine Majestät haben geruht, die Errichtung einer
Sparkasse durch Hinterlegung von 2 Staatsschuldscheinen s, 2000 Rubel,
Serie ^. der Sprozentigen Anleihe vom Jahre 1871 zu genehmigen, welche
der General Kasimir zum Besten mittelloser Beamtenkinder der Stadt Jakutsk
zur Erinnerung an seine verewigte Tochter errichtet" -- so heißt es da bunt


war, die letzten Spuren der einst kräftigen Autonomie einzelner Stämme
im Blute der Parteien erstickte. Damals vollzog sich in Rußland derselbe
Prozeß, wie einst in Frankreich unter Chlodwig, dann unter Ludwig XI.,
später unter Richelieu: Zentralisation unter absoluter Herrschaft, ein Zustand,
dem das alte deutsche Kaiserreich entging durch der einzelnen Stämme macht¬
volle Eigenart, ob zum Segen oder Unsegen seiner heutigen Fortentwickelung,
wer kann es sagen? „Von Peru nach Tauris, vom finnischen eisesklaren
Frost zum flcunmenheißen Kolchis, von des Kreml erschütterten Wall bis hin
nach China's ewig ragender Mauer" — so singt Puschkin, Rußland's Byron —
„laufen alle Fäden des vielzungigen Riesenstaates in eine Hand, die des weißen
Czaren an des Reiches äußerstem Ostrand." Kleine Bruchstücke, wie der Kau¬
kasus, die Ostseeprovinzen, Finnland, die neueroberten Oasen der Turkomannen-
lande haben eine Art Autonomie aus verschiedenen Gründen und von gleich
geringer Art, auch scheint sie keine Dauer zu versprechen. Weder die Entfer¬
nung, noch die geschichtliche Entwickelung, noch verzweifelnngsvoller Widerstand,
wie der Polen Jahrhunderte lange Kämpfe, haben das Schicksal geändert. Un¬
erbittlich wird Alles unterworfen — dem Petersburger Beamtenthum.

Darüber kann keine Täuschung walten: viel weniger der Czar, als die
Bureaukratie ist der eigentliche Herrscher des Landes, und sie war es in noch
viel höherem Maße unter Nikolaus, der sich einbildete, der allmächtige Herrscher
zu sein. Wohl haben die Reformen des jetzigen Kaisers weite Breschen in diese
Bureaukratenherrschaft gelegt, aber noch steht sie sest und unerschüttert und
wird noch manches Menschenalter überdauern, weil sie — ein nothwendiges
Uebel ist. Bei ihrer gewaltsamen Vernichtung würde das Reich unausbleiblich
eine Beute der Anarchie werden. Jetzt noch gipfelt Alles und Jedes in dem
scheinbar unumgänglich nöthigen Entschluß des Kaisers. Die offiziellen Jour¬
nale bringen jede Woche bunt durcheinander die wichtigsten und nichtigsten
Kabinetsordres. Weil Alles durch diese erst in die Wirklichkeit tritt, erscheint
auch Alles gleich wichtig. Nichts darf die Regierung übersehen, Nichts darf
ihr entgehen. Das macht dem ungewohnten Auge des Fremden denn oftmals
einen gar scurrilen Eindruck. „Seine Majestät haben geruht, die Errichtung
von 4 Betten im Greisenhospital von Nisney-Nowgorod Seitens der Wittwe
des hochseligen Steuerrathes Deuckselinski allerhöchst zu genehmigen. Seine
Majestät haben geruht, deu Abmarsch vom 3., 4. und 6. Armeekorps nach dem
Kriegsschauplatz anzuordnen. Seine Majestät haben geruht, die Errichtung einer
Sparkasse durch Hinterlegung von 2 Staatsschuldscheinen s, 2000 Rubel,
Serie ^. der Sprozentigen Anleihe vom Jahre 1871 zu genehmigen, welche
der General Kasimir zum Besten mittelloser Beamtenkinder der Stadt Jakutsk
zur Erinnerung an seine verewigte Tochter errichtet" — so heißt es da bunt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/266>, abgerufen am 24.07.2024.