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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Ausland und die Küssen.
H. v. Clausewitz. Von I.

Von mehr als einer Seite ist die Bemerkung gemacht worden, daß seit
dem Ausbruche des russisch-türkischen Krieges, wo die deutsche Presse mehr als
sonst Gelegenheit hatte, sich mit Rußland und den Russen zu beschäftigen,
gerade unter den großen liberalen Zeitungen Deutschland's sich eine systema¬
tische Abneigung, man möchte sagen Feindseligkeit gegen diesen Staat kund¬
gegeben hat, welche im Grunde entschieden ungerechtfertigt ist.

Fragt man nach den Ursachen dieser Erscheinung, so stößt man -- es ist
nicht höflich, es zu sagen, aber "im Deutschen lügt man, wenn man höflich
ist" -- auf eine große Unwissenheit in Bezug auf die jetzigen russischen Ver¬
hältnisse. Man sieht und hört Einrichtungen tadeln, die im heutigen Rußland
entweder gar nicht mehr bestehen, oder im Verschwinden begriffen find. Es
werden Uebelstände hervorgehoben, welche mit dem Czar Nikolaus zugleich zu
Grabe getragen worden sind. Wir sind es gewöhnt, über französische Zeitungen,
ja Staatsmänner zu spotten, weil ihnen wichtige Thatsachen und Verhältnisse
des deutschen Lebens unbekannt sind oder unter gänzlich falschem, verzerrtem
Gesichtspunkt erscheinen; wenn man aber selbst in Rußland lange gelebt oder
mit gebildeten, wohlunterrichteten Russen verkehrt hat, so findet man, daß die
deutsche Presse vielfach gerade dieselben Sünden auf sich lädt.

Es liegt dem Verfasser dieser Zeilen sern, den Redaktionen jener Zeitungen
gehässige Absichtlichkeit unterzuschieben. Aber es ist doch unleugbar, daß vielfach
die Ansicht herrscht, als stände man noch dem Rußland der Jahre 1843--52
gegenüber. Diesem System gegenüber konnte in der Brust eines jeden Patrioten
kein anderes Gefühl aufkommen als tödtlicher Haß, und nur Parteifanatiker,
denen der Triumph ihrer Fraktion höher steht, als die Würde und das Glück
ihres Vaterlandes, oder -- beschränkte Köpfe, welche jenen nachbeten, können
anders urtheilen. Das heutige Rußland aber, oder richtiger gesagt der jetzige
Kaiser und derjenige Theil seiner Umgebung, welcher ehrlich und Pflichttreu auf
seine Intentionen eingeht, verdient die Sympathien: aller liberal gesinnten
Männer Deutschland's, und diese zu kräftigen, ist die Absicht des Verfassers
dieser Zeilen. Daß derselbe kein blinder Verehrer russischer Zustände ist, werden
seine Ausführungen beweisen, um so eher darf er aber wohl auch hoffen, daß
man ihn keines unberechtigten Optimismus zeiht, wo er Anerkennung aus¬
sprechen zu dürfen glaubt.


Ausland und die Küssen.
H. v. Clausewitz. Von I.

Von mehr als einer Seite ist die Bemerkung gemacht worden, daß seit
dem Ausbruche des russisch-türkischen Krieges, wo die deutsche Presse mehr als
sonst Gelegenheit hatte, sich mit Rußland und den Russen zu beschäftigen,
gerade unter den großen liberalen Zeitungen Deutschland's sich eine systema¬
tische Abneigung, man möchte sagen Feindseligkeit gegen diesen Staat kund¬
gegeben hat, welche im Grunde entschieden ungerechtfertigt ist.

Fragt man nach den Ursachen dieser Erscheinung, so stößt man — es ist
nicht höflich, es zu sagen, aber „im Deutschen lügt man, wenn man höflich
ist" — auf eine große Unwissenheit in Bezug auf die jetzigen russischen Ver¬
hältnisse. Man sieht und hört Einrichtungen tadeln, die im heutigen Rußland
entweder gar nicht mehr bestehen, oder im Verschwinden begriffen find. Es
werden Uebelstände hervorgehoben, welche mit dem Czar Nikolaus zugleich zu
Grabe getragen worden sind. Wir sind es gewöhnt, über französische Zeitungen,
ja Staatsmänner zu spotten, weil ihnen wichtige Thatsachen und Verhältnisse
des deutschen Lebens unbekannt sind oder unter gänzlich falschem, verzerrtem
Gesichtspunkt erscheinen; wenn man aber selbst in Rußland lange gelebt oder
mit gebildeten, wohlunterrichteten Russen verkehrt hat, so findet man, daß die
deutsche Presse vielfach gerade dieselben Sünden auf sich lädt.

Es liegt dem Verfasser dieser Zeilen sern, den Redaktionen jener Zeitungen
gehässige Absichtlichkeit unterzuschieben. Aber es ist doch unleugbar, daß vielfach
die Ansicht herrscht, als stände man noch dem Rußland der Jahre 1843—52
gegenüber. Diesem System gegenüber konnte in der Brust eines jeden Patrioten
kein anderes Gefühl aufkommen als tödtlicher Haß, und nur Parteifanatiker,
denen der Triumph ihrer Fraktion höher steht, als die Würde und das Glück
ihres Vaterlandes, oder — beschränkte Köpfe, welche jenen nachbeten, können
anders urtheilen. Das heutige Rußland aber, oder richtiger gesagt der jetzige
Kaiser und derjenige Theil seiner Umgebung, welcher ehrlich und Pflichttreu auf
seine Intentionen eingeht, verdient die Sympathien: aller liberal gesinnten
Männer Deutschland's, und diese zu kräftigen, ist die Absicht des Verfassers
dieser Zeilen. Daß derselbe kein blinder Verehrer russischer Zustände ist, werden
seine Ausführungen beweisen, um so eher darf er aber wohl auch hoffen, daß
man ihn keines unberechtigten Optimismus zeiht, wo er Anerkennung aus¬
sprechen zu dürfen glaubt.


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[0263] Ausland und die Küssen. H. v. Clausewitz. Von I. Von mehr als einer Seite ist die Bemerkung gemacht worden, daß seit dem Ausbruche des russisch-türkischen Krieges, wo die deutsche Presse mehr als sonst Gelegenheit hatte, sich mit Rußland und den Russen zu beschäftigen, gerade unter den großen liberalen Zeitungen Deutschland's sich eine systema¬ tische Abneigung, man möchte sagen Feindseligkeit gegen diesen Staat kund¬ gegeben hat, welche im Grunde entschieden ungerechtfertigt ist. Fragt man nach den Ursachen dieser Erscheinung, so stößt man — es ist nicht höflich, es zu sagen, aber „im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist" — auf eine große Unwissenheit in Bezug auf die jetzigen russischen Ver¬ hältnisse. Man sieht und hört Einrichtungen tadeln, die im heutigen Rußland entweder gar nicht mehr bestehen, oder im Verschwinden begriffen find. Es werden Uebelstände hervorgehoben, welche mit dem Czar Nikolaus zugleich zu Grabe getragen worden sind. Wir sind es gewöhnt, über französische Zeitungen, ja Staatsmänner zu spotten, weil ihnen wichtige Thatsachen und Verhältnisse des deutschen Lebens unbekannt sind oder unter gänzlich falschem, verzerrtem Gesichtspunkt erscheinen; wenn man aber selbst in Rußland lange gelebt oder mit gebildeten, wohlunterrichteten Russen verkehrt hat, so findet man, daß die deutsche Presse vielfach gerade dieselben Sünden auf sich lädt. Es liegt dem Verfasser dieser Zeilen sern, den Redaktionen jener Zeitungen gehässige Absichtlichkeit unterzuschieben. Aber es ist doch unleugbar, daß vielfach die Ansicht herrscht, als stände man noch dem Rußland der Jahre 1843—52 gegenüber. Diesem System gegenüber konnte in der Brust eines jeden Patrioten kein anderes Gefühl aufkommen als tödtlicher Haß, und nur Parteifanatiker, denen der Triumph ihrer Fraktion höher steht, als die Würde und das Glück ihres Vaterlandes, oder — beschränkte Köpfe, welche jenen nachbeten, können anders urtheilen. Das heutige Rußland aber, oder richtiger gesagt der jetzige Kaiser und derjenige Theil seiner Umgebung, welcher ehrlich und Pflichttreu auf seine Intentionen eingeht, verdient die Sympathien: aller liberal gesinnten Männer Deutschland's, und diese zu kräftigen, ist die Absicht des Verfassers dieser Zeilen. Daß derselbe kein blinder Verehrer russischer Zustände ist, werden seine Ausführungen beweisen, um so eher darf er aber wohl auch hoffen, daß man ihn keines unberechtigten Optimismus zeiht, wo er Anerkennung aus¬ sprechen zu dürfen glaubt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/263>, abgerufen am 25.08.2024.