Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

hoch noch niedrig verschonend, heimsuchte, ist in keiner Weise übertrieben, und
sie zeichnet uns auch die Herkunft und die Symptom der Krankheit ziemlich
genau. Das Folgende mag sie indeß ergänzen, da neuere und neueste Beob¬
achtung unsere Kenntniß der Pest erheblich vermehrt hat.

Mit dem Ausdrucke Pest bezeichnet der Volksmund jede ansteckende Krank¬
heit, die sich weit ausbreitet und rasch tödtet. In diesem Sinne wird das
Wort auch von den alten Schriftstellern angewendet, in deren Werken solche
Seuchen oft erwähnt, doch niemals recht deutlich, sodaß ihr Charakter vollkommen
erkennbar wäre, beschrieben werden. Dahin gehören die Epidemieen. deren im
Alten Testamente wiederholt gedacht wird, unt> die furchtbare Seuche in Athen,
welche Thukydides uns geschildert hat. Die erste Weltseuche, die sicheren Nach¬
richten zufolge der im engeren Sinne jetzt Pest genannten Krankheit glich, ist
die sogenannte Justinianische Pest, welche vom Jahre 542 n. Chr. an, vom
Morgenlande kommend, ein halbes Jahrhundert hindurch Europa verheerte und
ängstigte. Von dieser Zeit an erst scheinen die Geschichtsschreiber unter dem
Worte Pest nur die Krankheit verstanden zu haben, die wir als Drüsen- oder
Beulenpest oder auch als orientalische Pest bezeichnen, und die, wie wir annehmen
müssen, gegenwärtig in Rußland ausgebrochen ist. Sie gehört in die Klasse
der Fieberkrankheiten und hat einerseits Aehnlichkeit mit dem Typhus, während
sie andererseits an den Milzbrand erinnert. Im Mittelalter waren Pestepidemiecn,
die aus dem Orient kamen, nicht selten. Der "schwarze Tod", dieselbe Seuche,
die Boccaccio uns soeben auf's anschaulichste beschrieben hat, und die in Frank¬
reich und Deutschland Hunderttausende hinraffte, stieg bis nach Skandinavien
hinauf und verbreitete sich im Jahre 1352 von da nach Pskow und Nowgorod
und zuletzt über den größten Theil des heutigen russischen Reiches. Im sech¬
zehnten und siebzehnten Jahrhundert waren Pestepidemieen im nördlichen Europa
ziemlich häufig, und noch zu Anfang des achtzehnten wüthete die echte orienta-
talische Pest in dieser Gegend zuweilen mit großer Heftigkeit. Sie trat damals
in Deutschland, Holland und Italien bald sporadisch, bald in weit ausgedehnten
Epidemieen auf und war dann bald für längere, bald für kürzere Zeit ver¬
schwunden. In England schloß die schreckliche Pest, die London 1688 heimsuchte,
im Westen die, welche 1720 in Marseille und in der Provence wüthete, die lange
Reihe dieser Erscheinungen. Im östlichen Europa, namentlich in Rußland und
Ungarn, trat die orientalische Pest noch kurz vor dem Schlüsse jenes Jahr¬
hunderts auf. Nachdem Astrachan im Jahre 1692 von ihr befallen worden
und zwei volle Jahre von ihr gelitten, folgten 1770 und 1797 in Rußland
wieder zwei große Epidemieen der Art, von denen die erstere, die vorzüglich
Moskau und feine Umgebung verheerte, noch heute in der Erinnerung des
Volkes lebt.


hoch noch niedrig verschonend, heimsuchte, ist in keiner Weise übertrieben, und
sie zeichnet uns auch die Herkunft und die Symptom der Krankheit ziemlich
genau. Das Folgende mag sie indeß ergänzen, da neuere und neueste Beob¬
achtung unsere Kenntniß der Pest erheblich vermehrt hat.

Mit dem Ausdrucke Pest bezeichnet der Volksmund jede ansteckende Krank¬
heit, die sich weit ausbreitet und rasch tödtet. In diesem Sinne wird das
Wort auch von den alten Schriftstellern angewendet, in deren Werken solche
Seuchen oft erwähnt, doch niemals recht deutlich, sodaß ihr Charakter vollkommen
erkennbar wäre, beschrieben werden. Dahin gehören die Epidemieen. deren im
Alten Testamente wiederholt gedacht wird, unt> die furchtbare Seuche in Athen,
welche Thukydides uns geschildert hat. Die erste Weltseuche, die sicheren Nach¬
richten zufolge der im engeren Sinne jetzt Pest genannten Krankheit glich, ist
die sogenannte Justinianische Pest, welche vom Jahre 542 n. Chr. an, vom
Morgenlande kommend, ein halbes Jahrhundert hindurch Europa verheerte und
ängstigte. Von dieser Zeit an erst scheinen die Geschichtsschreiber unter dem
Worte Pest nur die Krankheit verstanden zu haben, die wir als Drüsen- oder
Beulenpest oder auch als orientalische Pest bezeichnen, und die, wie wir annehmen
müssen, gegenwärtig in Rußland ausgebrochen ist. Sie gehört in die Klasse
der Fieberkrankheiten und hat einerseits Aehnlichkeit mit dem Typhus, während
sie andererseits an den Milzbrand erinnert. Im Mittelalter waren Pestepidemiecn,
die aus dem Orient kamen, nicht selten. Der „schwarze Tod", dieselbe Seuche,
die Boccaccio uns soeben auf's anschaulichste beschrieben hat, und die in Frank¬
reich und Deutschland Hunderttausende hinraffte, stieg bis nach Skandinavien
hinauf und verbreitete sich im Jahre 1352 von da nach Pskow und Nowgorod
und zuletzt über den größten Theil des heutigen russischen Reiches. Im sech¬
zehnten und siebzehnten Jahrhundert waren Pestepidemieen im nördlichen Europa
ziemlich häufig, und noch zu Anfang des achtzehnten wüthete die echte orienta-
talische Pest in dieser Gegend zuweilen mit großer Heftigkeit. Sie trat damals
in Deutschland, Holland und Italien bald sporadisch, bald in weit ausgedehnten
Epidemieen auf und war dann bald für längere, bald für kürzere Zeit ver¬
schwunden. In England schloß die schreckliche Pest, die London 1688 heimsuchte,
im Westen die, welche 1720 in Marseille und in der Provence wüthete, die lange
Reihe dieser Erscheinungen. Im östlichen Europa, namentlich in Rußland und
Ungarn, trat die orientalische Pest noch kurz vor dem Schlüsse jenes Jahr¬
hunderts auf. Nachdem Astrachan im Jahre 1692 von ihr befallen worden
und zwei volle Jahre von ihr gelitten, folgten 1770 und 1797 in Rußland
wieder zwei große Epidemieen der Art, von denen die erstere, die vorzüglich
Moskau und feine Umgebung verheerte, noch heute in der Erinnerung des
Volkes lebt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0208" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141619"/>
          <p xml:id="ID_621" prev="#ID_620"> hoch noch niedrig verschonend, heimsuchte, ist in keiner Weise übertrieben, und<lb/>
sie zeichnet uns auch die Herkunft und die Symptom der Krankheit ziemlich<lb/>
genau. Das Folgende mag sie indeß ergänzen, da neuere und neueste Beob¬<lb/>
achtung unsere Kenntniß der Pest erheblich vermehrt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_622"> Mit dem Ausdrucke Pest bezeichnet der Volksmund jede ansteckende Krank¬<lb/>
heit, die sich weit ausbreitet und rasch tödtet. In diesem Sinne wird das<lb/>
Wort auch von den alten Schriftstellern angewendet, in deren Werken solche<lb/>
Seuchen oft erwähnt, doch niemals recht deutlich, sodaß ihr Charakter vollkommen<lb/>
erkennbar wäre, beschrieben werden. Dahin gehören die Epidemieen. deren im<lb/>
Alten Testamente wiederholt gedacht wird, unt&gt; die furchtbare Seuche in Athen,<lb/>
welche Thukydides uns geschildert hat. Die erste Weltseuche, die sicheren Nach¬<lb/>
richten zufolge der im engeren Sinne jetzt Pest genannten Krankheit glich, ist<lb/>
die sogenannte Justinianische Pest, welche vom Jahre 542 n. Chr. an, vom<lb/>
Morgenlande kommend, ein halbes Jahrhundert hindurch Europa verheerte und<lb/>
ängstigte. Von dieser Zeit an erst scheinen die Geschichtsschreiber unter dem<lb/>
Worte Pest nur die Krankheit verstanden zu haben, die wir als Drüsen- oder<lb/>
Beulenpest oder auch als orientalische Pest bezeichnen, und die, wie wir annehmen<lb/>
müssen, gegenwärtig in Rußland ausgebrochen ist. Sie gehört in die Klasse<lb/>
der Fieberkrankheiten und hat einerseits Aehnlichkeit mit dem Typhus, während<lb/>
sie andererseits an den Milzbrand erinnert. Im Mittelalter waren Pestepidemiecn,<lb/>
die aus dem Orient kamen, nicht selten. Der &#x201E;schwarze Tod", dieselbe Seuche,<lb/>
die Boccaccio uns soeben auf's anschaulichste beschrieben hat, und die in Frank¬<lb/>
reich und Deutschland Hunderttausende hinraffte, stieg bis nach Skandinavien<lb/>
hinauf und verbreitete sich im Jahre 1352 von da nach Pskow und Nowgorod<lb/>
und zuletzt über den größten Theil des heutigen russischen Reiches. Im sech¬<lb/>
zehnten und siebzehnten Jahrhundert waren Pestepidemieen im nördlichen Europa<lb/>
ziemlich häufig, und noch zu Anfang des achtzehnten wüthete die echte orienta-<lb/>
talische Pest in dieser Gegend zuweilen mit großer Heftigkeit. Sie trat damals<lb/>
in Deutschland, Holland und Italien bald sporadisch, bald in weit ausgedehnten<lb/>
Epidemieen auf und war dann bald für längere, bald für kürzere Zeit ver¬<lb/>
schwunden. In England schloß die schreckliche Pest, die London 1688 heimsuchte,<lb/>
im Westen die, welche 1720 in Marseille und in der Provence wüthete, die lange<lb/>
Reihe dieser Erscheinungen. Im östlichen Europa, namentlich in Rußland und<lb/>
Ungarn, trat die orientalische Pest noch kurz vor dem Schlüsse jenes Jahr¬<lb/>
hunderts auf. Nachdem Astrachan im Jahre 1692 von ihr befallen worden<lb/>
und zwei volle Jahre von ihr gelitten, folgten 1770 und 1797 in Rußland<lb/>
wieder zwei große Epidemieen der Art, von denen die erstere, die vorzüglich<lb/>
Moskau und feine Umgebung verheerte, noch heute in der Erinnerung des<lb/>
Volkes lebt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0208] hoch noch niedrig verschonend, heimsuchte, ist in keiner Weise übertrieben, und sie zeichnet uns auch die Herkunft und die Symptom der Krankheit ziemlich genau. Das Folgende mag sie indeß ergänzen, da neuere und neueste Beob¬ achtung unsere Kenntniß der Pest erheblich vermehrt hat. Mit dem Ausdrucke Pest bezeichnet der Volksmund jede ansteckende Krank¬ heit, die sich weit ausbreitet und rasch tödtet. In diesem Sinne wird das Wort auch von den alten Schriftstellern angewendet, in deren Werken solche Seuchen oft erwähnt, doch niemals recht deutlich, sodaß ihr Charakter vollkommen erkennbar wäre, beschrieben werden. Dahin gehören die Epidemieen. deren im Alten Testamente wiederholt gedacht wird, unt> die furchtbare Seuche in Athen, welche Thukydides uns geschildert hat. Die erste Weltseuche, die sicheren Nach¬ richten zufolge der im engeren Sinne jetzt Pest genannten Krankheit glich, ist die sogenannte Justinianische Pest, welche vom Jahre 542 n. Chr. an, vom Morgenlande kommend, ein halbes Jahrhundert hindurch Europa verheerte und ängstigte. Von dieser Zeit an erst scheinen die Geschichtsschreiber unter dem Worte Pest nur die Krankheit verstanden zu haben, die wir als Drüsen- oder Beulenpest oder auch als orientalische Pest bezeichnen, und die, wie wir annehmen müssen, gegenwärtig in Rußland ausgebrochen ist. Sie gehört in die Klasse der Fieberkrankheiten und hat einerseits Aehnlichkeit mit dem Typhus, während sie andererseits an den Milzbrand erinnert. Im Mittelalter waren Pestepidemiecn, die aus dem Orient kamen, nicht selten. Der „schwarze Tod", dieselbe Seuche, die Boccaccio uns soeben auf's anschaulichste beschrieben hat, und die in Frank¬ reich und Deutschland Hunderttausende hinraffte, stieg bis nach Skandinavien hinauf und verbreitete sich im Jahre 1352 von da nach Pskow und Nowgorod und zuletzt über den größten Theil des heutigen russischen Reiches. Im sech¬ zehnten und siebzehnten Jahrhundert waren Pestepidemieen im nördlichen Europa ziemlich häufig, und noch zu Anfang des achtzehnten wüthete die echte orienta- talische Pest in dieser Gegend zuweilen mit großer Heftigkeit. Sie trat damals in Deutschland, Holland und Italien bald sporadisch, bald in weit ausgedehnten Epidemieen auf und war dann bald für längere, bald für kürzere Zeit ver¬ schwunden. In England schloß die schreckliche Pest, die London 1688 heimsuchte, im Westen die, welche 1720 in Marseille und in der Provence wüthete, die lange Reihe dieser Erscheinungen. Im östlichen Europa, namentlich in Rußland und Ungarn, trat die orientalische Pest noch kurz vor dem Schlüsse jenes Jahr¬ hunderts auf. Nachdem Astrachan im Jahre 1692 von ihr befallen worden und zwei volle Jahre von ihr gelitten, folgten 1770 und 1797 in Rußland wieder zwei große Epidemieen der Art, von denen die erstere, die vorzüglich Moskau und feine Umgebung verheerte, noch heute in der Erinnerung des Volkes lebt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/208
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/208>, abgerufen am 02.10.2024.