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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Draußen auf dem Lande aber war es nicht besser. Auf den zerstreuten
Gütern und Meierhöfen starben die unglücklichen Bauern mit den Ihrigen ohne
ärztlichen Beistand und ohne Pflege von Dienstboten auf Straßen und Feldern
wie in ihren Häusern, ohne Unterschied bei Tag und bei Nacht. So nahmen
auch sie gleich den Städtern ausschweifende Sitten an: "sie kümmerten sich nicht mehr
um ihre Angelegenheiten, sie dachten nicht mehr daran, die Früchte ihres frühe¬
ren Schweißes, ihrer Ländereien und ihres Viehstandes für die Zukunft zu
pflegen und zu vermehren, sondern bemühten sich mit Scharfsinn, sie so schnell wie
möglich zu verzehren, als ob sie demnächst sterben müßten. Daher geschah es,
daß Rinder, Esel, Schafe, Ziegen, Schweine und Hühner, ja selbst Hunde,
die dem Menschen doch am treuesten anhängen, aus den Häusern, zu denen sie
gehörten, vertrieben, nach Belieben auf den Feldern herumliefen, wo das Ge-'
treibe verlassen stand und weder gehauen noch eingefahren wurde. Manche
von diesen kehrten, ohne von einem Hirten getrieben zu werden, wie wenn sie
-mit Vernunft begabt wären, nachdem sie den Tag über geweidet, am Abend ge¬
sättigt in ihr Gehöfte zurück."

"Was kann ich" -- fo schließt unser Berichterstatter seine Schilderung dieser
Noth, die übrigens auch in andern Städten und Gegenden Italien's und später
auch im Norden Europa's die Menschheit dezimirte und demoralisirte -- "was
kann ich Stärkeres sagen, wenn ich mich nun wieder zur Stadt zurückbegebe,
als daß die Strenge des Himmels und die Härte der Menschen so groß waren,
daß man mit Sicherheit annimmt, vom März bis zum nächsten Juli seien, theils
durch die Gewalt der Seuche, theils aus Mangel an Hilfe, innerhalb der
Mauern von Florenz über hunderttausend Menschen dem Leben entrissen worden,
während man vor diesem verheerenden Ereignisse der Stadt vielleicht kaum so
viel Bewohner zugeschrieben haben würde.*) Ach, wie viele große Paläste, wie
viele stattliche Häuser und wie viele vornehme Wohnungen, die ehedem voll
glänzender Dienerschaft, voll edler Herren und Damen gewesen waren, standen
jetzt bis auf den niedrigsten Stallknecht leer. Wie viele denkwürdige Geschlechter
blieben ohne Stammhalter, wie viele bedeutende Hinterlassenschaften und wie
viele reiche Besitzungen ohne Erben! Was für eine Menge von rüstigen Männern,
holden Frauen und blühenden Jünglingen, welche, anderer zu geschweige", selbst
Galen, Hippokrates und Aeskulap für durchaus gesund gehalten hätten, aßen
noch am Morgen mit ihren Verwandten, Spielgenossen und Freunden, um schon
am nächsten Abend in jener Welt mit ihren Vorfahren zu speisen!"

Diese Beschreibung der Pest, die 1348 Florenz entvölkerte und später noch
länger als ein Jahrzehnt den größten Theil des europäischen Festlandes, weder



*) Darin hätte man vermuthlich geirrt; denn Florenz war damals die volkreichste
Stadt nicht nur Italien's, sondern ganz Europa's.

Draußen auf dem Lande aber war es nicht besser. Auf den zerstreuten
Gütern und Meierhöfen starben die unglücklichen Bauern mit den Ihrigen ohne
ärztlichen Beistand und ohne Pflege von Dienstboten auf Straßen und Feldern
wie in ihren Häusern, ohne Unterschied bei Tag und bei Nacht. So nahmen
auch sie gleich den Städtern ausschweifende Sitten an: „sie kümmerten sich nicht mehr
um ihre Angelegenheiten, sie dachten nicht mehr daran, die Früchte ihres frühe¬
ren Schweißes, ihrer Ländereien und ihres Viehstandes für die Zukunft zu
pflegen und zu vermehren, sondern bemühten sich mit Scharfsinn, sie so schnell wie
möglich zu verzehren, als ob sie demnächst sterben müßten. Daher geschah es,
daß Rinder, Esel, Schafe, Ziegen, Schweine und Hühner, ja selbst Hunde,
die dem Menschen doch am treuesten anhängen, aus den Häusern, zu denen sie
gehörten, vertrieben, nach Belieben auf den Feldern herumliefen, wo das Ge-'
treibe verlassen stand und weder gehauen noch eingefahren wurde. Manche
von diesen kehrten, ohne von einem Hirten getrieben zu werden, wie wenn sie
-mit Vernunft begabt wären, nachdem sie den Tag über geweidet, am Abend ge¬
sättigt in ihr Gehöfte zurück."

„Was kann ich" — fo schließt unser Berichterstatter seine Schilderung dieser
Noth, die übrigens auch in andern Städten und Gegenden Italien's und später
auch im Norden Europa's die Menschheit dezimirte und demoralisirte — „was
kann ich Stärkeres sagen, wenn ich mich nun wieder zur Stadt zurückbegebe,
als daß die Strenge des Himmels und die Härte der Menschen so groß waren,
daß man mit Sicherheit annimmt, vom März bis zum nächsten Juli seien, theils
durch die Gewalt der Seuche, theils aus Mangel an Hilfe, innerhalb der
Mauern von Florenz über hunderttausend Menschen dem Leben entrissen worden,
während man vor diesem verheerenden Ereignisse der Stadt vielleicht kaum so
viel Bewohner zugeschrieben haben würde.*) Ach, wie viele große Paläste, wie
viele stattliche Häuser und wie viele vornehme Wohnungen, die ehedem voll
glänzender Dienerschaft, voll edler Herren und Damen gewesen waren, standen
jetzt bis auf den niedrigsten Stallknecht leer. Wie viele denkwürdige Geschlechter
blieben ohne Stammhalter, wie viele bedeutende Hinterlassenschaften und wie
viele reiche Besitzungen ohne Erben! Was für eine Menge von rüstigen Männern,
holden Frauen und blühenden Jünglingen, welche, anderer zu geschweige«, selbst
Galen, Hippokrates und Aeskulap für durchaus gesund gehalten hätten, aßen
noch am Morgen mit ihren Verwandten, Spielgenossen und Freunden, um schon
am nächsten Abend in jener Welt mit ihren Vorfahren zu speisen!"

Diese Beschreibung der Pest, die 1348 Florenz entvölkerte und später noch
länger als ein Jahrzehnt den größten Theil des europäischen Festlandes, weder



*) Darin hätte man vermuthlich geirrt; denn Florenz war damals die volkreichste
Stadt nicht nur Italien's, sondern ganz Europa's.
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[0207] Draußen auf dem Lande aber war es nicht besser. Auf den zerstreuten Gütern und Meierhöfen starben die unglücklichen Bauern mit den Ihrigen ohne ärztlichen Beistand und ohne Pflege von Dienstboten auf Straßen und Feldern wie in ihren Häusern, ohne Unterschied bei Tag und bei Nacht. So nahmen auch sie gleich den Städtern ausschweifende Sitten an: „sie kümmerten sich nicht mehr um ihre Angelegenheiten, sie dachten nicht mehr daran, die Früchte ihres frühe¬ ren Schweißes, ihrer Ländereien und ihres Viehstandes für die Zukunft zu pflegen und zu vermehren, sondern bemühten sich mit Scharfsinn, sie so schnell wie möglich zu verzehren, als ob sie demnächst sterben müßten. Daher geschah es, daß Rinder, Esel, Schafe, Ziegen, Schweine und Hühner, ja selbst Hunde, die dem Menschen doch am treuesten anhängen, aus den Häusern, zu denen sie gehörten, vertrieben, nach Belieben auf den Feldern herumliefen, wo das Ge-' treibe verlassen stand und weder gehauen noch eingefahren wurde. Manche von diesen kehrten, ohne von einem Hirten getrieben zu werden, wie wenn sie -mit Vernunft begabt wären, nachdem sie den Tag über geweidet, am Abend ge¬ sättigt in ihr Gehöfte zurück." „Was kann ich" — fo schließt unser Berichterstatter seine Schilderung dieser Noth, die übrigens auch in andern Städten und Gegenden Italien's und später auch im Norden Europa's die Menschheit dezimirte und demoralisirte — „was kann ich Stärkeres sagen, wenn ich mich nun wieder zur Stadt zurückbegebe, als daß die Strenge des Himmels und die Härte der Menschen so groß waren, daß man mit Sicherheit annimmt, vom März bis zum nächsten Juli seien, theils durch die Gewalt der Seuche, theils aus Mangel an Hilfe, innerhalb der Mauern von Florenz über hunderttausend Menschen dem Leben entrissen worden, während man vor diesem verheerenden Ereignisse der Stadt vielleicht kaum so viel Bewohner zugeschrieben haben würde.*) Ach, wie viele große Paläste, wie viele stattliche Häuser und wie viele vornehme Wohnungen, die ehedem voll glänzender Dienerschaft, voll edler Herren und Damen gewesen waren, standen jetzt bis auf den niedrigsten Stallknecht leer. Wie viele denkwürdige Geschlechter blieben ohne Stammhalter, wie viele bedeutende Hinterlassenschaften und wie viele reiche Besitzungen ohne Erben! Was für eine Menge von rüstigen Männern, holden Frauen und blühenden Jünglingen, welche, anderer zu geschweige«, selbst Galen, Hippokrates und Aeskulap für durchaus gesund gehalten hätten, aßen noch am Morgen mit ihren Verwandten, Spielgenossen und Freunden, um schon am nächsten Abend in jener Welt mit ihren Vorfahren zu speisen!" Diese Beschreibung der Pest, die 1348 Florenz entvölkerte und später noch länger als ein Jahrzehnt den größten Theil des europäischen Festlandes, weder *) Darin hätte man vermuthlich geirrt; denn Florenz war damals die volkreichste Stadt nicht nur Italien's, sondern ganz Europa's.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/207>, abgerufen am 06.02.2025.