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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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lobwürdiger Eigenschaften Vertrauen schenkte und vorläufig freie Hand ließ
und der -- jetzt nicht mehr Minister ist. Man hat diesen und seine Partei
gewähren lassen, weil man sie bis auf weiteres gewähren lassen mußte. Oder
sollte es den Herren von der National-Liberalen Korrespondenz unbekannt sein,
daß der Fürst Bismarck sich mehr als einmal darüber beklagt hat: wie man
ihn für zu gesund und zu reich halte, so halte man ihn auch für zu mächtig?
War er etwa auch für das Muster'sche Regiment verantwortlich zu machen, das
doch ebenfalls geraume Zeit unter ihm als Ministerpräsidenten weiten Kreisen
Schädliches forderte? Konnte er an die Verwirklichung aller Gedanken und
Pläne, die ihm am Herzen lagen, an die Beseitigung aller Mißstände, die er
erkannt, auf einmal gehen, und gab es nicht wichtigere Fragen zu erledigen,
bevor die wirthschaftliche Reform in Angriff genommen werden konnte?

Wir haben Grund zu der Annahme, daß wenigstens die Grundzüge dieser
Reform dem Reichskanzler schon vor Jahren, d. h. schon vor Gründung des
deutschen Reichs, vor Augen standen. Aber zunächst waren bedeutungsvollere
Aufgaben, die seit dem Jahre 1864 an ihn herantraten, und die wir kaum zu nennen
brauchen, zu lösen, und schon deshalb war jene Reform zu vertagen. Oder
ginge es nicht über die größte Energie im Denken und Handeln, überstiege es
nicht jede menschliche Arbeitskraft, die Frage der wahren politischen Einigung
der Deutschen und diejenige der Beseitigung fremden, österreichischen, französi¬
schen, römischen Einflusses auf unsere nationalen Geschicke erfolgreicher Lösung
entgegenzuführen und zu gleicher Zeit die tiefgreifende Frage einer wirth¬
schaftlichen Umgestaltung unserer Verhältnisse gedeihlich zum Austrag zu bringen?

Sodann aber gibt es ein Sprichwort, nach dem gut Ding Weile haben
will. Jene reformatorischen Gedanken, die wir bei dem Fürsten voraussetzen,
mußten wie andere Vorhaben reifen, sie mußten detaillirten Inhalt gewinnen
und an der Erfahrung geprüft werden, es mußten sich Aussichten auf ein sieg¬
reiches Vorgehen in ihrem Sinne eröffnen. Aussichten der Art waren aber in
dem Jahrzehnt von 1865 bis 1875 so gut wie gar keine vorhanden. Es war
rein unmöglich, in dieser Zeit schon auf Einhalt und Umkehr in der freihänd¬
lerischen Bewegung hinzuarbeiten, die sich in den Jahren vorher wie eine
Epidemie weiter Kreise der Bevölkerung und darunter gerade der einflußreich¬
sten bemächtigt hatte. Die Erfahrung hatte noch nicht über die "Wissenschaft"
gerichtet, und die Doktrin Mr. Cobden's und seiner deutschen Schüler galt für
unfehlbar und unanfechtbar. Die Schulen, die Presse in der bei weitem grö¬
ßeren Hälfte ihrer Organe, die Verfasser der gebräuchlichen Lehrbücher der
Finanzwissenschaft, die Staatsbeamten, welche berufen waren, auf dem in Rede
stehenden Gebiete zu wirken, alle glaubten an die alleinseligmachenden Prinzi¬
pien des internationalen Freihandels, alle ließen sich mit mehr oder minde"


lobwürdiger Eigenschaften Vertrauen schenkte und vorläufig freie Hand ließ
und der — jetzt nicht mehr Minister ist. Man hat diesen und seine Partei
gewähren lassen, weil man sie bis auf weiteres gewähren lassen mußte. Oder
sollte es den Herren von der National-Liberalen Korrespondenz unbekannt sein,
daß der Fürst Bismarck sich mehr als einmal darüber beklagt hat: wie man
ihn für zu gesund und zu reich halte, so halte man ihn auch für zu mächtig?
War er etwa auch für das Muster'sche Regiment verantwortlich zu machen, das
doch ebenfalls geraume Zeit unter ihm als Ministerpräsidenten weiten Kreisen
Schädliches forderte? Konnte er an die Verwirklichung aller Gedanken und
Pläne, die ihm am Herzen lagen, an die Beseitigung aller Mißstände, die er
erkannt, auf einmal gehen, und gab es nicht wichtigere Fragen zu erledigen,
bevor die wirthschaftliche Reform in Angriff genommen werden konnte?

Wir haben Grund zu der Annahme, daß wenigstens die Grundzüge dieser
Reform dem Reichskanzler schon vor Jahren, d. h. schon vor Gründung des
deutschen Reichs, vor Augen standen. Aber zunächst waren bedeutungsvollere
Aufgaben, die seit dem Jahre 1864 an ihn herantraten, und die wir kaum zu nennen
brauchen, zu lösen, und schon deshalb war jene Reform zu vertagen. Oder
ginge es nicht über die größte Energie im Denken und Handeln, überstiege es
nicht jede menschliche Arbeitskraft, die Frage der wahren politischen Einigung
der Deutschen und diejenige der Beseitigung fremden, österreichischen, französi¬
schen, römischen Einflusses auf unsere nationalen Geschicke erfolgreicher Lösung
entgegenzuführen und zu gleicher Zeit die tiefgreifende Frage einer wirth¬
schaftlichen Umgestaltung unserer Verhältnisse gedeihlich zum Austrag zu bringen?

Sodann aber gibt es ein Sprichwort, nach dem gut Ding Weile haben
will. Jene reformatorischen Gedanken, die wir bei dem Fürsten voraussetzen,
mußten wie andere Vorhaben reifen, sie mußten detaillirten Inhalt gewinnen
und an der Erfahrung geprüft werden, es mußten sich Aussichten auf ein sieg¬
reiches Vorgehen in ihrem Sinne eröffnen. Aussichten der Art waren aber in
dem Jahrzehnt von 1865 bis 1875 so gut wie gar keine vorhanden. Es war
rein unmöglich, in dieser Zeit schon auf Einhalt und Umkehr in der freihänd¬
lerischen Bewegung hinzuarbeiten, die sich in den Jahren vorher wie eine
Epidemie weiter Kreise der Bevölkerung und darunter gerade der einflußreich¬
sten bemächtigt hatte. Die Erfahrung hatte noch nicht über die „Wissenschaft"
gerichtet, und die Doktrin Mr. Cobden's und seiner deutschen Schüler galt für
unfehlbar und unanfechtbar. Die Schulen, die Presse in der bei weitem grö¬
ßeren Hälfte ihrer Organe, die Verfasser der gebräuchlichen Lehrbücher der
Finanzwissenschaft, die Staatsbeamten, welche berufen waren, auf dem in Rede
stehenden Gebiete zu wirken, alle glaubten an die alleinseligmachenden Prinzi¬
pien des internationalen Freihandels, alle ließen sich mit mehr oder minde"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/170>, abgerufen am 23.07.2024.