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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Und hinter sie die dritte tritt.
Wie man das Ding auch sieht und dreht,
Die erste stets zuvorderst geht.

Nun aber die Gewissensfrage: Für wen ist die Kamp'sche Sammlung
bestimmt? Der Herausgeber hat allen Ernstes sich in erster Linie die deutsche
Kinderwelt als sein Publikum gedacht und die Absicht gehabt, das deutsche
Kinderlied mit seinem Büchlein zu bereichern. Wir halten das für eine sehr
gutgemeinte Absicht, glauben aber, daß die Hoffnung des Herausgebers eine
vergebliche sein wird. Dem deutschen Kinderliede frisches Blut zuzuführen,
thäte freilich recht noth. Das echte Kinderlied ist ja bei uns -- Gott sei's
geklagt! -- so ziemlich im Aussterben begriffen. Die Stätten, wo es außer
der Kinderstube allein gedeiht und wo es vor zwanzig Jahren auch in den
größeren Städten noch von Mund zu Munde ging, sind Garten, Hof und
Straße. Aber in unsern großen Städten haben die Kinder keine Gärten und
Höfe mehr, und die Straße ist immer gefahrvoller für sie geworden. So werden
sie denn in die Kindergärten gepfercht, mechanische Dressiranstalten, wo sie von
eben so mechanisch dressirten Kindergärtnerinnen mit allerhand neumodischen
Spielen und Reimen gefüttert werden, die der gute Fröbel und eine Anzahl
blaustrttmpfiger Fröbelianerinnen ausgeklügelt haben, und die kindlich sein
sollen, aber in Wahrheit kindisch sind. Um das körperliche Wohl und die
Zucht und Sitte der ihm anvertrauten Kleinen erwirbt sich der Kindergarten
unstreitig große Verdienste, aber um die geistige Speise, die er ihnen bietet,
ist es recht traurig bestellt. Der Kindergarten hat -- es muß das einmal
ausgesprochen werden -- die schwere Sünde auf sich geladen, daß er die gute,
alte Kinderpoesie hinausgeworfen hat, weil sie angeblich aus albernen Gassen¬
liedern besteht, die keinen Sinn haben, und hat äußerst gedankenvolle, aber
auch äußerst abgeschmackte und poesielose Verslein an ihre Stelle gesetzt. Doch
auch im Hause und in der Familie verstummt das alte Kinderlied mehr und
mehr. Die Mütter verlernen es, mit ihren Kindern zu singen. Und was der
Kindergarten verfehlt, das Haus versäumt, das setzt die Schule redlich fort. Man
sehe sie nur an, die offiziellen Liederbücher unserer Volksschulen -- welchen
unnützen Ballast führen sie neben dem wirklich Guten mit sich! Und nun vollends
der klägliche gereimte Text, den nach einem weit verbreiteten und tief einge¬
wurzelten Vorurtheile alle unsere Bilderbücher, auch die besten, haben müssen,
und den viele Eltern thöricht genug sind ihre Kinder auswendig lernen zu
lassen -- alles das arbeitet an der Verdrängung des echten Kinderliedes, so
daß es bald nur noch in den gedruckten Sammlungen zu finden sein wird,
wo es einen so wehmüthig anblickt, wie die trockenen verblaßten Blumen im
Herbarium und wie die aufgespannten Sommervögel an der Nadel.


Und hinter sie die dritte tritt.
Wie man das Ding auch sieht und dreht,
Die erste stets zuvorderst geht.

Nun aber die Gewissensfrage: Für wen ist die Kamp'sche Sammlung
bestimmt? Der Herausgeber hat allen Ernstes sich in erster Linie die deutsche
Kinderwelt als sein Publikum gedacht und die Absicht gehabt, das deutsche
Kinderlied mit seinem Büchlein zu bereichern. Wir halten das für eine sehr
gutgemeinte Absicht, glauben aber, daß die Hoffnung des Herausgebers eine
vergebliche sein wird. Dem deutschen Kinderliede frisches Blut zuzuführen,
thäte freilich recht noth. Das echte Kinderlied ist ja bei uns — Gott sei's
geklagt! — so ziemlich im Aussterben begriffen. Die Stätten, wo es außer
der Kinderstube allein gedeiht und wo es vor zwanzig Jahren auch in den
größeren Städten noch von Mund zu Munde ging, sind Garten, Hof und
Straße. Aber in unsern großen Städten haben die Kinder keine Gärten und
Höfe mehr, und die Straße ist immer gefahrvoller für sie geworden. So werden
sie denn in die Kindergärten gepfercht, mechanische Dressiranstalten, wo sie von
eben so mechanisch dressirten Kindergärtnerinnen mit allerhand neumodischen
Spielen und Reimen gefüttert werden, die der gute Fröbel und eine Anzahl
blaustrttmpfiger Fröbelianerinnen ausgeklügelt haben, und die kindlich sein
sollen, aber in Wahrheit kindisch sind. Um das körperliche Wohl und die
Zucht und Sitte der ihm anvertrauten Kleinen erwirbt sich der Kindergarten
unstreitig große Verdienste, aber um die geistige Speise, die er ihnen bietet,
ist es recht traurig bestellt. Der Kindergarten hat — es muß das einmal
ausgesprochen werden — die schwere Sünde auf sich geladen, daß er die gute,
alte Kinderpoesie hinausgeworfen hat, weil sie angeblich aus albernen Gassen¬
liedern besteht, die keinen Sinn haben, und hat äußerst gedankenvolle, aber
auch äußerst abgeschmackte und poesielose Verslein an ihre Stelle gesetzt. Doch
auch im Hause und in der Familie verstummt das alte Kinderlied mehr und
mehr. Die Mütter verlernen es, mit ihren Kindern zu singen. Und was der
Kindergarten verfehlt, das Haus versäumt, das setzt die Schule redlich fort. Man
sehe sie nur an, die offiziellen Liederbücher unserer Volksschulen — welchen
unnützen Ballast führen sie neben dem wirklich Guten mit sich! Und nun vollends
der klägliche gereimte Text, den nach einem weit verbreiteten und tief einge¬
wurzelten Vorurtheile alle unsere Bilderbücher, auch die besten, haben müssen,
und den viele Eltern thöricht genug sind ihre Kinder auswendig lernen zu
lassen — alles das arbeitet an der Verdrängung des echten Kinderliedes, so
daß es bald nur noch in den gedruckten Sammlungen zu finden sein wird,
wo es einen so wehmüthig anblickt, wie die trockenen verblaßten Blumen im
Herbarium und wie die aufgespannten Sommervögel an der Nadel.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/163>, abgerufen am 23.07.2024.