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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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wenn er hundert Jahre darin läse. Genug, man verstand ihn nicht, und wenn
irgend etwas die Größe der Umwälzung, welche in dem Mayer'schen Gedanken
lag, lebendig darzustellen vermag, so ist es das damalige und spätere Verhalten
gegen Mayer von Seiten der wissenschaftlichen Philister. Mayer ließ sich dadurch
nicht irre machen; er war seiner Sache gewiß. Noch im Laufe des Jahres
1841 arbeitete er seine Entdeckung in dem kleinen Aufsatze: "Bemerkungen über
die Kräfte der unbelebten Natur" aus und schickte diese nach Berlin zur Auf¬
nahme in die Poggendorffschen "Annalen der Physik". Hier im Brennpunkte
des wissenschaftlichen Lebens, hier mußte man ja seine Ideen zu würdigen
wissen. Aber nein, Mayer irrte sich; sein Aufsatz kam zurück, er hatte keine
Gnade vor Poggendorff's Augen gefunden -- was konnte auch ein junger Mann,
ein praktischer Arzt, entdecken? -- und wenn er keinen größeren Fehler hatte,
so war er mindestens nicht im Jargon der Annalen geschrieben. Genug, er
war nicht aufnahmefähig. Mayer ließ ihn nun an Liebig nach Gießen gehen
und war voll Freude, als er im Mai 1842 die Nachricht bekam, sein Aufsatz
finde in den "Annalen der Chemie und Pharmazie" Aufnahme.

Die fünf bis sechs Jahre, die nun folgen, sind die glücklichsten in Mayer's
Leben. Er wurde Oberamtswundarzt und später Stadt- und Armenarzt; seine
Familie -- er hatte sich im Sommer 1842 verheirathet -- blühte auf, und
endlich, was die Hauptsache war, in der Verfolgung der Konsequenzen seines
neuen Gedankens war er ungemein glücklich. In dieser Zeit verfaßte er die
beiden nach Form und Inhalt klassischen Werke: "Die organische Bewegung
in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel" und "Beiträge zur Dynamik
des Himmels". Die erste Arbeit erschien 1845, die zweite 1848. Die Druck¬
kosten mußte Mayer selbst tragen.

Gegen das Jahr 1849 beginnen die Prioritätsstreitigkeiten. Die Leute vom
"Fach" in England und Frankreich hatten mittlerweile gemerkt, daß in der
Wissenschaft etwas Bedeutendes vorgegangen war -- in Deutschland war man
noch nicht so weit gediehen --, und da die alltägliche Beobachtung, daß aus
Bewegung Wärme entspringt, und unklares Philosophiren über Kraft leicht mit
der Entdeckung vermischt und der gewaltige Unterschied zwischen beiden Dingen
leicht verwischt werden konnte, was ja selbst heutzutage noch von bedeutenden
wissenschaftlichen Größen mit und ohne Bewußtsein und Absicht geschieht, so
gehörte ein Streit über die Priorität der Mayer'schen Entdeckung gewiß nicht
zu den Unmöglichkeiten des wissenschaftlichen Lebens. Dazu kam, daß der
Engländer Joule um 1843, anderthalb Jahre nach Mayer, Experimente ver¬
öffentlicht hatte, die ebenfalls auf die Auffindung der Aequivalentzahl gerichtet
waren, und die unter den Fachleuten rascher bekannt wurden, als die Mayer'sche
Entdeckung, da man es in England weniger verschmähte, von einem sogenannten


wenn er hundert Jahre darin läse. Genug, man verstand ihn nicht, und wenn
irgend etwas die Größe der Umwälzung, welche in dem Mayer'schen Gedanken
lag, lebendig darzustellen vermag, so ist es das damalige und spätere Verhalten
gegen Mayer von Seiten der wissenschaftlichen Philister. Mayer ließ sich dadurch
nicht irre machen; er war seiner Sache gewiß. Noch im Laufe des Jahres
1841 arbeitete er seine Entdeckung in dem kleinen Aufsatze: „Bemerkungen über
die Kräfte der unbelebten Natur" aus und schickte diese nach Berlin zur Auf¬
nahme in die Poggendorffschen „Annalen der Physik". Hier im Brennpunkte
des wissenschaftlichen Lebens, hier mußte man ja seine Ideen zu würdigen
wissen. Aber nein, Mayer irrte sich; sein Aufsatz kam zurück, er hatte keine
Gnade vor Poggendorff's Augen gefunden — was konnte auch ein junger Mann,
ein praktischer Arzt, entdecken? — und wenn er keinen größeren Fehler hatte,
so war er mindestens nicht im Jargon der Annalen geschrieben. Genug, er
war nicht aufnahmefähig. Mayer ließ ihn nun an Liebig nach Gießen gehen
und war voll Freude, als er im Mai 1842 die Nachricht bekam, sein Aufsatz
finde in den „Annalen der Chemie und Pharmazie" Aufnahme.

Die fünf bis sechs Jahre, die nun folgen, sind die glücklichsten in Mayer's
Leben. Er wurde Oberamtswundarzt und später Stadt- und Armenarzt; seine
Familie — er hatte sich im Sommer 1842 verheirathet — blühte auf, und
endlich, was die Hauptsache war, in der Verfolgung der Konsequenzen seines
neuen Gedankens war er ungemein glücklich. In dieser Zeit verfaßte er die
beiden nach Form und Inhalt klassischen Werke: „Die organische Bewegung
in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel" und „Beiträge zur Dynamik
des Himmels". Die erste Arbeit erschien 1845, die zweite 1848. Die Druck¬
kosten mußte Mayer selbst tragen.

Gegen das Jahr 1849 beginnen die Prioritätsstreitigkeiten. Die Leute vom
„Fach" in England und Frankreich hatten mittlerweile gemerkt, daß in der
Wissenschaft etwas Bedeutendes vorgegangen war — in Deutschland war man
noch nicht so weit gediehen —, und da die alltägliche Beobachtung, daß aus
Bewegung Wärme entspringt, und unklares Philosophiren über Kraft leicht mit
der Entdeckung vermischt und der gewaltige Unterschied zwischen beiden Dingen
leicht verwischt werden konnte, was ja selbst heutzutage noch von bedeutenden
wissenschaftlichen Größen mit und ohne Bewußtsein und Absicht geschieht, so
gehörte ein Streit über die Priorität der Mayer'schen Entdeckung gewiß nicht
zu den Unmöglichkeiten des wissenschaftlichen Lebens. Dazu kam, daß der
Engländer Joule um 1843, anderthalb Jahre nach Mayer, Experimente ver¬
öffentlicht hatte, die ebenfalls auf die Auffindung der Aequivalentzahl gerichtet
waren, und die unter den Fachleuten rascher bekannt wurden, als die Mayer'sche
Entdeckung, da man es in England weniger verschmähte, von einem sogenannten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/107>, abgerufen am 24.07.2024.