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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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die jeder respektvoll nennt, wenige lesen und niemand kauft, die auf Biblio¬
theken stehen und dann und wann von denen konsnltirt werden, die sx xro-
tö83o mit fachwissenschaftlichen Studien sich beschäftigen. Für den weiteren
Kreis der Gebildeten ist das Buch schlechterdings ungeeignet. Aus ihm hat
seiner Zeit Stahr mit geschickter, freilich auch etwas leichtfertiger Hand feine
Darstellung zusammengeschrieben. In eine lesbare Form hat er das Danzel'-
sche Material unzweifelhaft umgegossen, dabei hat es aber mehr als einen recht
unangenehmen Zusatz bekommen. Dahin gehört vor allem der ans die Dauer
unausstehliche panegyristische Ton, in dem das Ganze geschrieben ist. Stahr
drückt den Leser fortwährend mit der Nase darauf, was Lessing doch für ein
großer Mann gewesen, er kommt aus seiner krampfhaften Bewunderung nicht
heraus. Um diesen panegyristischen Ton nirgends herabstimmen, nirgends
einen Schatten neben das Licht stellen zu müssen, verrennt er sich sogar in
die seltsamsten Auffassungen. Man lese z. V. sein Kapitel über die "Emilia
Galotti", in welchem der alte Goethe sich von Adolf Stahr muß sagen lassen,
daß er das Stück gar nicht verstanden habe, und nun eine Charakteristik der
Emilia konstruirt wird, die in psychologischer Unmöglichkeit wahrhaft Haar¬
sträubendes leistet -- nur, um andere Vorwürfe, die Lessing gemacht worden
sind, abzuweisen! Neben dieser plumpen Glorifizirung aber ein ewiges Rai-
sonniren und Lamentireu über die Noth, in der Lessing gesteckt, und über die
schlechten Menschen, die ihm das Leben sauer gemacht haben, gepfefferte Aus¬
fälle gegen Gott und alle Welt, gegen die Fürsten, gegen die traurigen politi¬
schen Zustände Deutschland's, gegen die "Pfaffen", gegen die "gelehrten Phi¬
lister" -- kurz, eine Darstellung, die sich mit dem monumentalen Charakter,
den eine Biographie an sich tragen sollte, sehr schlecht verträgt, Lessing's aber
am allerwenigsten würdig ist.

Die Darstellung von Sine verbindet die Vorzüge der beiden deutschen
Biographien mit einander und vermeidet ihre Schwächen. Das ist die simple
Wahrheit. Ein größeres Lob aber kann dem Buche kaum gespendet werden.
Sine kennt unsre Lessingliteratur gründlich, bis herab auf den unbedeutendsten
Zeitungsartikel. Sachlich Neues, das ist wahr, enthält sein Buch so gut wie
nichts, wenn es auch keineswegs an neuen Gesichtspunkten darin fehlt. Aber
wer erwartet heute noch wesentlich neues biographisches Material über Lessing,
vollends von einem Ausländer, und wenn derselbe sich auch Jahre lang in
Deutschland aufgehalten hat und dabei den Spuren Lessing's überall ans's
gewissenhafteste nachgegangen ist? Auch "geistreich" kann man das Buch nicht
nennen; nach leuchtkugelartig schillernden Aperyus wird man sich vergebens
darin umsehen. Aber Sine hat das vorhandene Material sorgfältig und ver¬
ständig benutzt, alles, was er mittheilt, ist sachlich korrekt, er hat die klarste


die jeder respektvoll nennt, wenige lesen und niemand kauft, die auf Biblio¬
theken stehen und dann und wann von denen konsnltirt werden, die sx xro-
tö83o mit fachwissenschaftlichen Studien sich beschäftigen. Für den weiteren
Kreis der Gebildeten ist das Buch schlechterdings ungeeignet. Aus ihm hat
seiner Zeit Stahr mit geschickter, freilich auch etwas leichtfertiger Hand feine
Darstellung zusammengeschrieben. In eine lesbare Form hat er das Danzel'-
sche Material unzweifelhaft umgegossen, dabei hat es aber mehr als einen recht
unangenehmen Zusatz bekommen. Dahin gehört vor allem der ans die Dauer
unausstehliche panegyristische Ton, in dem das Ganze geschrieben ist. Stahr
drückt den Leser fortwährend mit der Nase darauf, was Lessing doch für ein
großer Mann gewesen, er kommt aus seiner krampfhaften Bewunderung nicht
heraus. Um diesen panegyristischen Ton nirgends herabstimmen, nirgends
einen Schatten neben das Licht stellen zu müssen, verrennt er sich sogar in
die seltsamsten Auffassungen. Man lese z. V. sein Kapitel über die „Emilia
Galotti", in welchem der alte Goethe sich von Adolf Stahr muß sagen lassen,
daß er das Stück gar nicht verstanden habe, und nun eine Charakteristik der
Emilia konstruirt wird, die in psychologischer Unmöglichkeit wahrhaft Haar¬
sträubendes leistet — nur, um andere Vorwürfe, die Lessing gemacht worden
sind, abzuweisen! Neben dieser plumpen Glorifizirung aber ein ewiges Rai-
sonniren und Lamentireu über die Noth, in der Lessing gesteckt, und über die
schlechten Menschen, die ihm das Leben sauer gemacht haben, gepfefferte Aus¬
fälle gegen Gott und alle Welt, gegen die Fürsten, gegen die traurigen politi¬
schen Zustände Deutschland's, gegen die „Pfaffen", gegen die „gelehrten Phi¬
lister" — kurz, eine Darstellung, die sich mit dem monumentalen Charakter,
den eine Biographie an sich tragen sollte, sehr schlecht verträgt, Lessing's aber
am allerwenigsten würdig ist.

Die Darstellung von Sine verbindet die Vorzüge der beiden deutschen
Biographien mit einander und vermeidet ihre Schwächen. Das ist die simple
Wahrheit. Ein größeres Lob aber kann dem Buche kaum gespendet werden.
Sine kennt unsre Lessingliteratur gründlich, bis herab auf den unbedeutendsten
Zeitungsartikel. Sachlich Neues, das ist wahr, enthält sein Buch so gut wie
nichts, wenn es auch keineswegs an neuen Gesichtspunkten darin fehlt. Aber
wer erwartet heute noch wesentlich neues biographisches Material über Lessing,
vollends von einem Ausländer, und wenn derselbe sich auch Jahre lang in
Deutschland aufgehalten hat und dabei den Spuren Lessing's überall ans's
gewissenhafteste nachgegangen ist? Auch „geistreich" kann man das Buch nicht
nennen; nach leuchtkugelartig schillernden Aperyus wird man sich vergebens
darin umsehen. Aber Sine hat das vorhandene Material sorgfältig und ver¬
ständig benutzt, alles, was er mittheilt, ist sachlich korrekt, er hat die klarste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/80>, abgerufen am 05.02.2025.