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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Hofes ausführt, die Schwierigkeiten, welche bezüglich der Auslegung der Gesetze
entstehen, viel leichter durch den Gesetzgeber überwunden werden, als durch den
Richter, welcher schlechthin an die Regeln der Gesetzesanwendung gebunde.n
und dessen Aufgabe um so schwieriger ist, als diese Regeln keineswegs feststehen.
Freilich liegt die Gefahr nahe, daß die Gesetzgebung beim besten Willen und
bei der größten Umsicht ihre Arbeit nicht ganz vollständig thut. Das Publi¬
kum wird aber zehnmal lieber diesen letzteren, später dann zu beseitigenden
Nachtheil in Kauf nehmen wollen, als die auf dem anderen Wege absolut zu
gewärti^ende Verwirrung und Unsicherheit.

Eben als man "des trockenen Tones" dieser gegenseitigen Auseinander¬
setzungen satt werden wollte, ist es dem Lehrer des französischen Zivilrechts
an der Universität Heidelberg, zugleich in Vertretung dieser Hochschule Mitglied
der ersten Kammer, Geh. Rath Dr. Renaud, gelungen, in gewohnter feiner
Urbanität den Verhandlungen frisches, funkensprühendes Leben einzuhauchen.
Die Regierung ließ nämlich in einer Berathungspanse durch den Justizministe-
rialpräsidenten ein früher von Renaud abgekehrtes Gutachten oder besser gesagt
eine flüchtig motivirte Meinungsäußerung desselben über die Derogationsfrage
ohne Vorwissen des Präsidiums der zweiten Kammer an deren Mitglieder
vertheilen. Im Gegensatze zu seinem Freiburger Kollegen vertritt Dr. Renaud
den Standpunkt der Regierung. Er erklärt es sür unmöglich, die von der
Justizkommission unternommene Arbeit zu leisten und meint, es sei "mißlich,
wenn der Gesetzgeber nicht blos den Schein der Unfähigkeit zu einer Arbeit
auf sich ziehe, sondern wirkliche Jukapazität zur Lösung einer von ihm ohne
Noth übernommenen Aufgabe darlege." Nach sonst gangbaren Begriffen er¬
scheint diese Auslassung, wie der Präsident der zweiten Kammer in öffentlicher
Sitzung erklärte, als sehr "verletzend". Während nun aber der Herr Justizministe-
rialpräsident schüchtern versuchte, durch eine günstigere Deutung des von ihm
in der Eile nicht scharf in's Auge gefaßten Satzes das Haus milder zu stimmen,
gelang es der Jnterpretationskunst des Heidelberger Rechtslehrers, in der ersten
Kammer in wunderbar feingefügter Erläuterung eine Darlegung zu geben,
deren logischer Deduktion nur uoch ein Glied beizufügen war, um der zweiten
Kammer und ihrer Justizkommission begreiflich zu machen, wie in jener Aeuße¬
rung durchaus mir ein fein ersonnenes Kompliment zu erblicken sei. Die
Sache ist zu den Akten gelegt. Sicher ist, daß das Renaud'sche "Gutachten"
nichts zur Verständigung beigetragen, im Gegentheil nach mancher Seite hin
die Lage nur noch schwieriger gemacht hat. Regierung und Justizkvmmission
beharrten bei den erneuter Verhandlungen jede auf dem bisherigen Stand¬
punkte, die Kammer hielt in der zweiten Berathung ihren früheren Beschluß
bezüglich der Derogation einstimmig fest, und da die Regierung den Beitritt


Hofes ausführt, die Schwierigkeiten, welche bezüglich der Auslegung der Gesetze
entstehen, viel leichter durch den Gesetzgeber überwunden werden, als durch den
Richter, welcher schlechthin an die Regeln der Gesetzesanwendung gebunde.n
und dessen Aufgabe um so schwieriger ist, als diese Regeln keineswegs feststehen.
Freilich liegt die Gefahr nahe, daß die Gesetzgebung beim besten Willen und
bei der größten Umsicht ihre Arbeit nicht ganz vollständig thut. Das Publi¬
kum wird aber zehnmal lieber diesen letzteren, später dann zu beseitigenden
Nachtheil in Kauf nehmen wollen, als die auf dem anderen Wege absolut zu
gewärti^ende Verwirrung und Unsicherheit.

Eben als man „des trockenen Tones" dieser gegenseitigen Auseinander¬
setzungen satt werden wollte, ist es dem Lehrer des französischen Zivilrechts
an der Universität Heidelberg, zugleich in Vertretung dieser Hochschule Mitglied
der ersten Kammer, Geh. Rath Dr. Renaud, gelungen, in gewohnter feiner
Urbanität den Verhandlungen frisches, funkensprühendes Leben einzuhauchen.
Die Regierung ließ nämlich in einer Berathungspanse durch den Justizministe-
rialpräsidenten ein früher von Renaud abgekehrtes Gutachten oder besser gesagt
eine flüchtig motivirte Meinungsäußerung desselben über die Derogationsfrage
ohne Vorwissen des Präsidiums der zweiten Kammer an deren Mitglieder
vertheilen. Im Gegensatze zu seinem Freiburger Kollegen vertritt Dr. Renaud
den Standpunkt der Regierung. Er erklärt es sür unmöglich, die von der
Justizkommission unternommene Arbeit zu leisten und meint, es sei „mißlich,
wenn der Gesetzgeber nicht blos den Schein der Unfähigkeit zu einer Arbeit
auf sich ziehe, sondern wirkliche Jukapazität zur Lösung einer von ihm ohne
Noth übernommenen Aufgabe darlege." Nach sonst gangbaren Begriffen er¬
scheint diese Auslassung, wie der Präsident der zweiten Kammer in öffentlicher
Sitzung erklärte, als sehr „verletzend". Während nun aber der Herr Justizministe-
rialpräsident schüchtern versuchte, durch eine günstigere Deutung des von ihm
in der Eile nicht scharf in's Auge gefaßten Satzes das Haus milder zu stimmen,
gelang es der Jnterpretationskunst des Heidelberger Rechtslehrers, in der ersten
Kammer in wunderbar feingefügter Erläuterung eine Darlegung zu geben,
deren logischer Deduktion nur uoch ein Glied beizufügen war, um der zweiten
Kammer und ihrer Justizkommission begreiflich zu machen, wie in jener Aeuße¬
rung durchaus mir ein fein ersonnenes Kompliment zu erblicken sei. Die
Sache ist zu den Akten gelegt. Sicher ist, daß das Renaud'sche „Gutachten"
nichts zur Verständigung beigetragen, im Gegentheil nach mancher Seite hin
die Lage nur noch schwieriger gemacht hat. Regierung und Justizkvmmission
beharrten bei den erneuter Verhandlungen jede auf dem bisherigen Stand¬
punkte, die Kammer hielt in der zweiten Berathung ihren früheren Beschluß
bezüglich der Derogation einstimmig fest, und da die Regierung den Beitritt


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[0514] Hofes ausführt, die Schwierigkeiten, welche bezüglich der Auslegung der Gesetze entstehen, viel leichter durch den Gesetzgeber überwunden werden, als durch den Richter, welcher schlechthin an die Regeln der Gesetzesanwendung gebunde.n und dessen Aufgabe um so schwieriger ist, als diese Regeln keineswegs feststehen. Freilich liegt die Gefahr nahe, daß die Gesetzgebung beim besten Willen und bei der größten Umsicht ihre Arbeit nicht ganz vollständig thut. Das Publi¬ kum wird aber zehnmal lieber diesen letzteren, später dann zu beseitigenden Nachtheil in Kauf nehmen wollen, als die auf dem anderen Wege absolut zu gewärti^ende Verwirrung und Unsicherheit. Eben als man „des trockenen Tones" dieser gegenseitigen Auseinander¬ setzungen satt werden wollte, ist es dem Lehrer des französischen Zivilrechts an der Universität Heidelberg, zugleich in Vertretung dieser Hochschule Mitglied der ersten Kammer, Geh. Rath Dr. Renaud, gelungen, in gewohnter feiner Urbanität den Verhandlungen frisches, funkensprühendes Leben einzuhauchen. Die Regierung ließ nämlich in einer Berathungspanse durch den Justizministe- rialpräsidenten ein früher von Renaud abgekehrtes Gutachten oder besser gesagt eine flüchtig motivirte Meinungsäußerung desselben über die Derogationsfrage ohne Vorwissen des Präsidiums der zweiten Kammer an deren Mitglieder vertheilen. Im Gegensatze zu seinem Freiburger Kollegen vertritt Dr. Renaud den Standpunkt der Regierung. Er erklärt es sür unmöglich, die von der Justizkommission unternommene Arbeit zu leisten und meint, es sei „mißlich, wenn der Gesetzgeber nicht blos den Schein der Unfähigkeit zu einer Arbeit auf sich ziehe, sondern wirkliche Jukapazität zur Lösung einer von ihm ohne Noth übernommenen Aufgabe darlege." Nach sonst gangbaren Begriffen er¬ scheint diese Auslassung, wie der Präsident der zweiten Kammer in öffentlicher Sitzung erklärte, als sehr „verletzend". Während nun aber der Herr Justizministe- rialpräsident schüchtern versuchte, durch eine günstigere Deutung des von ihm in der Eile nicht scharf in's Auge gefaßten Satzes das Haus milder zu stimmen, gelang es der Jnterpretationskunst des Heidelberger Rechtslehrers, in der ersten Kammer in wunderbar feingefügter Erläuterung eine Darlegung zu geben, deren logischer Deduktion nur uoch ein Glied beizufügen war, um der zweiten Kammer und ihrer Justizkommission begreiflich zu machen, wie in jener Aeuße¬ rung durchaus mir ein fein ersonnenes Kompliment zu erblicken sei. Die Sache ist zu den Akten gelegt. Sicher ist, daß das Renaud'sche „Gutachten" nichts zur Verständigung beigetragen, im Gegentheil nach mancher Seite hin die Lage nur noch schwieriger gemacht hat. Regierung und Justizkvmmission beharrten bei den erneuter Verhandlungen jede auf dem bisherigen Stand¬ punkte, die Kammer hielt in der zweiten Berathung ihren früheren Beschluß bezüglich der Derogation einstimmig fest, und da die Regierung den Beitritt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/514>, abgerufen am 05.02.2025.